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       # taz.de -- 100 Jahre Avus in Berlin: Aorta der Moderne
       
       > Am 24. September 1921 wurde in Berlin die „Automobil-Verkehrs- und
       > Uebungs-Straße“ eingeweiht. Seitdem bewegt sich immer mehr auf der
       > Autobahn.
       
   IMG Bild: Sieger beim ersten Avursrennen 1921: Fritz von Opel in der Klasse der 8-PS-Wagen
       
       Dieser Text wird auf einem fürs Unterwegs-Sein konzipierten Gerät getippt,
       mit Maske und anderen Unpässlichkeiten, Verzögerungen mal „wegen
       Zwischenfall auf dem Gleis“, als Folge vollgestopfte Bahnsteige, auch mit
       Aggro, Anschluss nur mit Stehplatz, Ankunft 10 Minuten verspätet, „Grund
       dafür ist eine Verspätung eines vorausfahrenden Zuges“, dann 20 Minuten,
       Ausweichen auf andere Gleise, Aufzüge nicht barrierefrei zu
       bewerkstelligen, „circa einstündige Verspätung wegen Bauarbeiten“.
       
       Effizient sollte sie werden, unter den zehn Jahren (1999–2009) Hartmut
       Mehdorn, die Eisenbahn (etymologisch die Urmutter der Autobahn). Ermittelt
       wurde damals, dass viele Pannen auf Defekte an Signalanlagen oder Gleise
       zurückzuführen waren, weswegen die vom Streckennetz entfernt wurden – mit
       dem Resultat, dass es bei Störungen nun weniger Alternativen gibt.
       
       Also – auf die Autobahn! Und gleich anstoßen: Zum 100. Geburtstag der
       [1][Berliner Avus], die am 24. September 1921 mit einem Autorennen
       eingeweiht wurde, gibt es keinen Champagner, der geschüttelt und lauthals
       lachend verspritzt wird von Siegern, zusammen mit immer gern gesehenen
       Würdenträgern aus Politik, Autoverbänden und Bauämtern.
       
       Stattdessen Betrieb wie immer, Ausbremsen und Überholmanöver wie am
       Eröffnungsrennwochenende 1921 – heute wegen erhöhtem Verkehrsaufkommen,
       gelegentlicher „Behinderung“, alles in Zeitlupe oder nicht schneller als
       die nebenan überholenden Radfahrer.
       
       ## Monatskarte 100.000 Mark
       
       Früher waren weniger Autos, mehr Applaudierende. Die Tribüne an der
       Nordkurve ist noch da, restauriert für 7,2 Millionen Euro (die originale
       „Automobil-Verkehrs- und Uebungs-Straße“ verschlang umgerechnet das
       doppelte), ein guter Ort, um angesichts von Raserei oder Stau nachzudenken,
       was da vor und hinter uns liegt, autobahnmäßig, was um die 250.000
       Fahrer:innen auf der Avus täglich vor und hinter sich haben.
       
       Die Avus ist weltweit berühmt, weil als erste Rennstrecke konzipiert und
       gebaut, Brot und Spiele für drei Mark (aufgrund der Inflation 1923 Hin- und
       Rückfahr-Erlaubnis für [2][Ottonormalverbraucher] à 8.000 Mark, Monatskarte
       100.000), parallel aber eben auch Urmutter der Autobahn. Die ist
       „Abenteuerspielplatz und Rückgrat der Wirtschaft gleichermaßen“, wie es im
       Vorwort zum gerade erschienenen Bildband „Die deutsche Autobahn“ (Verlag
       Frederking & Thaler) heißt.
       
       Manches Paradox ist im Asphalt fest implantiert, der Horror und der Spaß am
       fahrn fahrn fahrn. Nutzwert und Stresstest für Berlin-Besucher wie
       Globetrotter, genauso Sattelschlepper – beladen mit dänischen Fahrrädern
       oder Lebensmitteln für Bioläden. Nebenbei bemerkt: Nutzfahrzeuge der
       Technischen Hilfswerke wären neulich ohne Diesel und Autobahn nicht so
       schnell in die Eifel gelangt.
       
       Der Bildband widmet sich auch Anderem rund um die gern gehasste und selbst
       von [3][Petrolheads] und Zylinderköpfen verfluchte Aorta der Moderne. Tolle
       und irre Randerscheinungen wie Rastplätze, Seelsorger bei Unfällen – und
       viele Zahlen: Autobahnen machen demnach 1,8 Prozent unserer Straßen aus,
       müssen aber herhalten für ein Drittel aller zurückgelegten Wegstrecken. Wie
       das gehen soll, vielleicht sogar gut gehen, ist haarsträubend schwer zu
       begreifen. Das Verkehrsaufkommen ist wie eine Naturgewalt, stoisch oder
       bewundernswert nahtlos fädeln sich alle ein, wechseln Spuren, bemerkenswert
       oft, ohne dass es kracht. Echt viel los, in jede Richtung, zusätzlich noch
       Abzweigungen wie die zur Tanke mit wieder ganz eigenem Biotop des Grotesken
       auf dem Parkplatz.
       
       ## Grenzen des Wachstums
       
       Der Diskurs über Verkehr ist viel zu schön, da komplex, um so betrieben zu
       werden wie Fernseh-Talkshows, wo Experten oder Kritiker mit Zahlen um sich
       werfen – obwohl die Überlastung von Schienen und Asphalt in etwa zeitgleich
       gewachsen ist mit anderen Phänomenen. Mobilisierung der Massen,
       gesellschaftlich ebenso wie fürs Urlauben; Digitalisierung (auch im Pkw mit
       Kilometern an Kabeln für Datenübertragung); Zunahme der Todesopfer von
       Verkehrsunfällen (ab 1970, inzwischen rückläufig, auf Autobahnen laut
       Statistik um die zehn Prozent, nicht zuletzt wegen Fortschritten der
       Medizin, nun eben mit mehr überlebenden Schwerverletzten). Kritik am
       Verkehrschaos geht Hand in Hand mit den – vom Club of Rome noch vor der
       Ölkrise konstatierten – Grenzen des Wachstums zur Lage der Menschheit.
       
       Der Erkenntnis ergeht es wie dem Verkehr und der Kommunikation. Sie sind im
       Fluss, auch wenn der häufig stockt. Bisweilen – so wie beim Passieren von
       Baustellen, auf denen niemand arbeitet – stellt sich der Gedanke ein: Wer
       profitiert von den Problemen? Wem liegt daran, mit Heftpflästerchen
       Stückelwerk zu beheben? Die Autoren von „Deutschland im Stau: Was uns das
       Verkehrschaos wirklich kostet“ befanden im Jahr 2014, dass Chaos und Macken
       der Finanzierung und Infrastruktur politisch gewollt oder toleriert sind.
       
       In Bezug auf den Bundesautobahnbau, der auf Länderebene von Kommunen
       debattiert wurde, führte das zu Straßennetz-Grotesken wie der in
       Baden-Württemberg. Im Ländle von Bosch-, Daimler-, Porsche- und
       Zulieferer-Angestellten wollte (fast) jeder schnelle Anfahrtswege zur
       Arbeit (mit 14 Monatsgehältern), nur eben nicht in Sichtweite vom Garten
       des Eigenheims. Bedeutet: Hier ist die Menge an plötzlich verendenden
       Stummeln, speziell Ost/West, besonders dicht, darunter auch die kürzeste
       Autobahn der Republik (A 831 mit 2,3 km Länge, der Schlusssprint nach
       Berlin auf der Avus ist mehr als achtmal so lang).
       
       Auch im Freistaat von BMW und Audi, so die Autoren von Deutschland im Stau,
       ruckelt es: „Auf weitere Jahrzehnte werden von hier Staus gemeldet, obwohl
       schon über eine Milliarde Euro verbaut wurden.“ Keiner merkt an, wer an
       Staus und Stillstand verdient: Absperrungen kosten in der Herstellung zwar
       kaum mehr als Joghurtbecher, sind in der Vermietung aber durchaus
       profitabel.
       
       ## www.fernstrassen-bundesamt.de
       
       Strukturell soll sich das im Rahmen einer vor vier Jahren beschlossenen
       Föderalismusreform ab diesem Jahr ändern. Fortan soll das neu geschaffene
       Fernstraßen-Bundesamt, eine Autobahn GmbH des Bundes Problemlösungen,
       zunächst Problemanalysen eruieren. Noch mehr Zahlen. Noch mehr zu zahlen.
       Und noch mehr Pannen, wie – Piep, aktuelle Staumeldung – aus einer gerade
       eingegangenen Mail hervorgeht:
       
       „Die PARTEI / Martin Sonneborn hat das Fernstraßen-Bundesamt übernommen.
       Nicht ganz, aber fast: [4][Die Domain www.fernstrassen-bundesamt.de] hat
       das BMVI (Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur) nie
       registriert“. Der Domain-Inhaber hat den traffic bis vor Tagen nett
       umgeleitet, hostet nun aber Eigenes, mit Sonneborn als Schirmherr. Nicht
       nur die öffentliche Hand hat ein unglückliches Händchen, den Zuständigen
       der digitalen Infrastruktur kann es genauso ergehen; gekidnappt von
       Netzpiraten, nun aufgefüllt mit Satire, Facts und Polemik, teilweise
       Erhellendem.
       
       Tatsache bleibt: Maut-Zahler, Bahnbetreiber, Autogegner und Vielfahrer
       quengeln fast unisono über Autobahnen und ihren Zustand, den Stillstand.
       Tempolimit, Maut – beides in vielen Ländern üblich – stößt auf die Rhetorik
       des Digitalen: „Gefällt mir“ oder „Geht gar nicht“. Einen Tacken
       nuancierter, alles etwas unaufgeregter, sei fair im Verkehr, wäre
       pragmatischer. Es sind sich ja praktisch alle einig, dass es so nicht
       weitergehen kann. Alle saßen schon mal in einem Auto und fluchten über den
       Stillstand, alle konsumieren oder lieben und kennen, was Kraftfahrzeuge
       transportieren.
       
       Und „alle“ werden immer mehr. Waghalsiges Manöver jetzt, aber keine Angst,
       wir kommen nicht ins Schleudern. Seit Jahrzehnten werden immer mehr
       Fahrzeuge pro Kopf zugelassen, mehr Kilometer zurückgelegt, mit
       kontinuierlich steigender Höchstgeschwindigkeit auf Überholspuren, damit
       zunehmend unterschiedlichem Tempo zwischen anschwellenden Lkw-Konvois und
       Pkw – mit einem Tempo-Unterschied von deutlich mehr als 100 km/h, nur Meter
       entfernt voneinander; gleichzeitig kosten Staus immer mehr Lebenszeit (je
       nach Perspektive konvertierbar in Milliarden Euro), wandern ausgediente
       Benziner ab ins Ausland, neigen sich Ölvorräte dem Ende. Nicht sichtbar,
       aber zu bedenken: Die Menge der schnelleren, generell immer zuverlässigeren
       Kfz wird nicht verringert, nur weil altes Blech verschoben oder verhökert
       wird in Regionen, wo Tesla noch für Jahrzehnte ein Fremdwort bleiben wird.
       
       Nicht mithalten mit diesem ganzen Wachstum und Wandel – in mehrerlei
       Hinsicht – kann der Mensch. Im Verkehr wächst fast alles schneller als die
       Bevölkerung, nicht zuletzt die Dichte und die Km/h auf der Überholspur
       sowie der Anteil an Pkw im oberen Preissegment; doch die Reaktionszeit des
       Menschen, ebenso die illusorische Gabe des Multitasking, hat sich nicht
       entwickelt. Selbst das Zufußgehen leidet, wenn man gleichzeitig
       telefoniert.
       
       24 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Autobahndreieck-Funkturm/!5683231
   DIR [2] /Zukunft-des-Autos/!5720791
   DIR [3] /Praegende-Autos/!5778927
   DIR [4] https://www.fernstrassen-bundesamt.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Matthias Penzel
       
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