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       # taz.de -- Der Fall Gabby Petito: True Crime in Echtzeit
       
       > Eine junge Influencerin wird im Urlaub getötet. Der Fall erregt
       > international Aufmerksamkeit. Die meisten Medien berichten. Nur: Wieso
       > eigentlich?
       
   IMG Bild: North Port, Florida: Blumen und Fotos an einer provisorischen Gedenkstätte für Gabby Petito
       
       Anfang Juli brechen eine junge Frau und ihr Verlobter zu einer gemeinsamen
       Reise auf. Vier Monate lang wollen Gabby Petito und Brian Laundrie mit
       ihrem ausgebauten Van durch verschiedene US-Staaten reisen und in
       Nationalparks campen. Wer will, konnte die Reise in Sozialen Medien
       verfolgen: [1][Auf Bildern bei Instagram posiert Petito], mal allein, mal
       mit ihrem Verlobten, in beeindruckenden Naturlandschaften.
       
       Drohnen-Aufnahmen von ihrem Van, Videos in Nahaufnahme der beiden, wie sie
       essen, am Strand chillen oder sich küssen, finden sich bei Youtube und in
       gespeicherten Instagram-Stories. Täglich kann man, zumindest in
       Ausschnitten, den Trip verfolgen. Bis zum 25. August – [2][an diesem Tag
       wird das letzte Foto von Petitos Instagram-Account gepostet]. Eine Woche
       später kehrt ihr Verlobter Laundrie allein nach Florida zurück. Am 11.
       September meldet Petitos Familie ihre Tochter bei der Polizei als vermisst.
       Und die Suche nach Gabby Petito beginnt.
       
       Doch nicht nur die Polizei macht sich auf die Suche nach der 22-jährigen
       Bloggerin. Es ist eine ganze Armada von Social-Media-User:innen, die zu
       Hobby-Detektiv:innen werden. Die Comedian und Autorin Paris Campbell ist
       eine der ersten, die den Fall in den Sozialen Medien aufgreift.
       Mittlerweile hat sie dutzende Videos bei TikTok veröffentlicht, in denen
       sie Updates zum Fall gibt. Daraufhin hat sich eine regelrechte Community
       gebildet, die versucht, das „Mysterium“ von Petitos Verschwinden zu lösen:
       Die User:innen analysieren jedes Detail, fahren zum Tatort oder zum Haus
       des Verlobten, sie geben sich gegenseitig Tipps und liefern Hinweise an die
       Polizei.
       
       Sie spekulieren anhand von an den Haaren herbeigezogenen Indizien: Warum
       sind die letzten Fotos von Brian Laundrie aus einem anderen Winkel
       fotografiert als die vorherigen? Musste die Kamera auf dem Boden stehen,
       weil Gabby nicht mehr da war, um die Fotos zu machen? Wieso postete Gabby
       ihre Fotos alle mit einer Ortsmarkierung, aber bei den letzten beiden Fotos
       fehlt sie? Hat jemand anderes von ihrem Account aus gepostet, um ihr
       Verschwinden zu verheimlichen? Aus jeder scheinbaren neuen Erkenntnis wird
       eine Nachricht generiert und über TikTok, Youtube oder Instagram geteilt.
       
       Am 20. September dann wird in einem Wald in Wyoming eine Leiche gefunden.
       Einen Tag später gibt es traurige Gewissheit für ihre Familie: Gabby Petito
       ist tot. Die Autopsie hat ergeben, dass es sich um ein Tötungsdelikt
       handelt, ihr Verlobter wird mittlerweile per Haftbefehl gesucht, da er
       verschwunden ist. Die Polizei – und auch die Hobby-Detektiv:innen – machen
       sich jetzt also auf die Suche nach ihm.
       
       ## Die klassischen Medien machen mit
       
       Angeheizt werden die Suche und damit auch die Spekulationen nicht nur durch
       die scheinbaren Erkenntnisse der Hobby-Detektiv:innen, sondern auch durch
       Recherchen von klassischen Medien und auch durch Material, das die Polizei
       an die Öffentlichkeit gibt. Darunter eine Aufnahme einer Dashcam eines
       Polizisten. Auf dem Video ist Petito sichtlich niedergeschlagen in einem
       Polizeiauto zu sehen. Aufgenommen wurde es bei einem Polizeieinsatz während
       der Reise. Ein Passant hatte die Polizei alarmiert wegen des Verdachts der
       häuslichen Gewalt, Laundrie soll seine Verlobte geschlagen haben.
       
       Die Videos unter dem Hashtag #GabbyPetitio haben allein bei TikTok fast 1
       Milliarde Aufrufe, bei Spotify lassen sich schon knapp ein dutzend
       Podcast-Folgen finden, die sich mit dem Fall beschäftigen. Und nicht nur in
       den Sozialen Medien, sondern auch in der klassischen Berichterstattung wird
       der Fall prominent verhandelt. TV-Sender wie CNN oder Fox widmen sich fast
       jedem Detail des Falls, viele Nachrichtenseiten haben einen Ticker
       eingerichtet, der laufend aktualisiert wird. Doch nicht nur in den USA
       schlägt der Fall Wellen. Auch in Deutschland berichten vom Spiegel über die
       Bild bis hin zur FAZ alle über Gabby Petito.
       
       In den USA werden pro Jahr hunderttausende Menschen als vermisst gemeldet,
       ein Großteil von ihnen taucht nach kurzer Zeit wieder auf. Doch tausende
       Fälle bleiben ungeklärt – und keine:r bekommt davon etwas mit. Doch wieso
       bekommt der Fall von Petito so viel Aufmerksamkeit? Warum berichten selbst
       deutsche, spanische und französische Medien darüber?
       
       Im Regelfall werden Vermisstenfälle und auch Tötungsdelike nicht in
       überregionalen Medien verhandelt. Berichterstattung über einzelne Fälle
       findet vorrangig in Boulevard- teilweise auch in Regionalmedien statt. Aus
       Gründen des Täter- und Opferschutzes zeigen deutsche Medien eigentlich auch
       keine Fotos der Betroffenen oder nennen ihre vollen Namen. Doch im Fall von
       Gabby Petitio ist das alles anders.
       
       ## Weiß, jung, attraktiv, im Netz aktiv
       
       Die Kommunikationswissenschaftlerin Christine Meltzer der Uni Mainz ist
       selbst überrascht von der Welle der Aufmerksamkeit, die dieser Fall auf
       sich zieht. Sie erklärt sich das anhaltende Echo anhand von drei Aspekten,
       die auch miteinander zusammenhängen. Eine große Rolle spielt das Opfer
       selbst: Petito ist eine weiße, junge, attraktive Frau, die in den Sozialen
       Medien sehr aktiv war. „Schon vor ihrem Verschwinden war Petito einer
       gewissen Community bekannt und hat mit ihren Beiträgen in den Sozialen
       Medien eine digitale Spur hinterlassen“, sagt Meltzer. Auch deswegen ist
       ihr Verschwinden vielen User:innen schnell aufgefallen.
       
       Hinzu kommt: „Die Berichterstattung zu Vermisstenfällen liegt einer
       Verzerrung zugrunde: Das Verschwinden von BPoCs oder Indigenen bekommt
       deutlich weniger Aufmerksamkeit im Vergleich zu weißen Menschen“, sagt
       Meltzer. „Missing White Woman Syndrome“ nannte dies 2004 die
       PBS-Nachrichtensprecherin Gwen Ifill, [3][mittlerweile ist es durch Studien
       belegt].
       
       In Deutschland bekam zuletzt 2019 das Verschwinden der damals 15-jährigen
       Berlinerin Rebecca Reusch viel Aufmerksamkeit. Der Fall ist nicht
       aufgeklärt, die Berichterstattung darüber hält bis heute an. Auffällig war
       damals schon das Fahndungsfoto, mit dem die Teenagerin gesucht wurde: Durch
       die starke Bildbearbeitung und durch ihr Aussehen mit blonden Haaren und
       großen Augen bekam das Bild etwas Puppenhaftes.
       
       „[4][Laut einer Studie] werden in westlichen Gesellschaften weiße, blonde
       Frauen als das Sinnbild der Unschuld kulturalisiert“, sagt Meltzer.
       „Verschwinden solche Personen, kann sich die Gesellschaft gar nicht
       vorstellen, dass die Person abgehauen ist, sondern denkt sofort, dass hier
       ein Verbrechen vorliegt.“ Konkrete Studien, ob das „Missing White Woman
       Syndrome“ auch auf deutsche Berichterstattung zutrifft, gibt es nicht. Doch
       Meltzer hat in einer Studie zur Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen
       auch ein Ungleichgewicht festgestellt: „In den Medien gibt es eine
       Verzerrung zugunsten von jungen Frauen, gleichzeitig werden migrantische
       Frauen vollkommen unterproportional sichtbar.“
       
       ## Emotionale Nähe in der vernetzten Welt
       
       Auch früher gab es schon Vermisstenfälle, die ein enormes Medienecho mit
       sich gebracht haben. Prominentestes Beispiel ist sicherlich das
       Verschwinden von [5][Maddie McCann]. Die damals knapp Vierjährige
       verschwand 2007 im Portugal-Urlaub mit ihren Eltern. Durch den Suchaufruf
       der Eltern und eine ausgelobte Belohnung in Millionenhöhe, gespendet von
       Prominenten wie David Beckham und Joanne K. Rowling, begannen auch damals
       schon private Suchen nach McCann. Heutzutage ist die Welt viel vernetzter.
       Dadurch kann einerseits schneller emotionale Nähe hergestellt werden, weil
       es kaum mehr eine Rolle spielt, wie weit entfernt die Person verschwunden
       ist. Gleichzeitig verbreiten sich Nachrichten, aber auch Gerüchte und
       Spekulationen, deutlich schneller.
       
       Den dritten Aspekt, wieso Petitos Verschwinden medial so viel Beachtung
       bekommt, sieht Meltzer in dem Hype um das Genre [6][True Crime]. „Immer,
       wenn ein Mensch verschwindet, ist das ein großes Mysterium. Und Mysterien
       wollen gelöst werden.“ In diesem Fall geht es aber nicht um eine fiktive
       oder nacherzählte Geschichte, die User:innen können den Kriminalfall live
       aus dem Wohnzimmer beobachten. True Crime in Echtzeit also.
       
       Immer wieder werden Kriminalfälle auch durch die Hilfe der Bevölkerung
       aufgeklärt. Eine enorme Aufmerksamkeit auf einen einzelnen Fall kann also
       die Ermittlungen deutlich beschleunigen. Auch in Petitos Fall wurde ihre
       Leiche durch eine andere reisende Familie entdeckt, die durch Soziale
       Medien über die Vermisstenmeldung erfahren hatte. Doch natürlich birgt das
       nicht nur positive Effekte. „Mehr Aufmerksamkeit führt auf jeden Fall zu
       mehr Hinweisen. Aber das kann auch hinderlich sein, weil jeder überprüft
       werden muss“, sagt Meltzer. „Und die Polizei wurde sicherlich nicht nur mit
       veritablen Hinweisen, sondern auch mit tausenden Annahmen und Theorien
       geflutet.“ Daneben können die Hobby-Detektiv:innen die Arbeit der Polizei
       auch erschweren, indem sie an – vermeintliche – Tatorte fahren und Spuren
       zerstören.
       
       Gefährdend ist das Einmischen durch Laien nicht nur für die Arbeit der
       Polizei, sondern auch für die Beteiligten. Für viele gilt der Verlobte
       Laundrie schon jetzt als Petitos Mörder: Dabei sind die polizeilichen
       Ermittlungen noch lange nicht abgeschlossen – geschweige denn, dass ein
       Gerichtsprozess stattgefunden hat. Meltzer befürchtet, dass durch die
       gesamten Spekulationen, die in der internationalen Öffentlichkeit
       verhandelt werden, auch die Selbstjustiz von potentiellen
       Augenzeug:innen befördern werden könnte. Ein Zustand, der nun nicht
       mehr zu ändern ist. Denn ist der Fall über Millionen Bilder, Videos und
       Nachrichten erst einmal in der Welt, wird man ihn nicht mehr so schnell
       los.
       
       24 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.instagram.com/gabspetito/?hl=de
   DIR [2] https://www.instagram.com/p/CTA__ISJZYY/?utm_source=ig_web_copy_link
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   DIR [4] https://aquila.usm.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1882&context=dissertations
   DIR [5] /Medienspektakel/!5195231
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