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       # taz.de -- Film über Belarussen im Exil: Leben ohne Heimat
       
       > Ein russischer Youtuber hat Menschen interviewt, die ihr Land verlassen
       > haben. Janka Belarus schreibt über den Alltag in ihrer Heimat. Folge 114.
       
   IMG Bild: Juri Dud im Gespräch: Ausschnitt aus dem Film „Wie lebt man, wenn einem die Heimat genommen wird“
       
       „Wie lebt man, wenn einem die Heimat genommen wird“ heißt ein fast
       dreistündiger Film des (russischen) Youtube-Stars Juri Dud. Gezeigt werden
       darin Treffen mit Belarussen, die gezwungen waren, [1][als politisch
       Verfolgte ihr Land zu verlassen]. Den Film kann man in einem Rutsch
       durchschauen. Innerhalb von vier Tagen wurde er im Internet 6 Millionen Mal
       aufgerufen und fast 32.000 Mal kommentiert.
       
       Belarussen, die diese wirklich gute journalistische Arbeit gesehen haben,
       sagten, dass dieser Film für Russen eine Warnung sei. Und dass Putin hier
       zu hundert Prozent die Rolle Lukaschenkos übernehmen und von dessen Fehlern
       lernen könne, denn in Russland haben bereits die „Säuberungen“ im
       Medienbereich begonnen, Festnahmen von Oppositionellen und die Errichtung
       einer Ein-Mann-Diktatur.
       
       Am schlimmsten aber finde ich, mich während des Films bei dem Gedanken zu
       ertappen, dass ich noch viel gruseligere Fluchtgeschichten von Leuten
       kenne, die sich jetzt in anderen Ländern in kritischem Zustand befinden.
       
       Das ist so ein Zynismuspanzer, der einem in den letzten anderthalb Jahren
       gewachsen ist, seitdem man absolut unnormale Dinge als alltäglich ansieht.
       
       Nichts Neues. Für Belarussen. Aber selbst Juri Dud erschrickt hin und
       wieder offen über das, was seine Filmhelden erzählen: „Ist das wirklich
       passiert?“ Aber wir sind hier schon daran gewöhnt, mit einem Angstsyndrom
       zu leben und mit einem für solche Fälle gepackten Koffer.
       
       Die Helden des Films sind Menschen unterschiedlichen Alters und ganz
       unterschiedlichen Berufen: [2][ein Programmierer aus einer Firma mit einem
       Jahresumsatz von 30 Millionen Dollar], eine 69jährige Rentnerin, ein
       bekannter Wirtschaftskommentator, Schwestern, die 12 Stunden lang durch
       einen Sumpf bis zur litauischen Grenze gewatet sind, eine Mutter von vier
       Kindern, eine Soldatin, die die Armee drei Jahre vor der Rente verlassen
       hat und Journalisten, darunter Nikita Melkoserow, der der „belarussische
       Juri Dud“ genannt wird, ein guter Interviewer.
       
       Sie erzählen ihre Geschichten, sprechen darüber, was sein wird, wenn ihre
       Emigration für immer sein sollte. Sie richten sich irgendwie ihr Zuhause
       ein, finden Arbeit, die Kinder gehen in die Schule, ein neuer
       Bekanntenkreis entsteht. [3][Sie verstehen den Wendepunkt ihres Schicksals,
       aber verlieren die Hoffnung nicht.] Die Hoffnung darauf, dass das Gute über
       das Böse siegen wird. Und dass sie in die Heimat zurückkehren können.
       
       Und das sagen sie selber:
       
       „Schweigen befördert die Versklavung unserer Kinder.“
       
       „Wir haben nicht so eine Lebenseinstellung: Mein Name ist Hase, ich weiß
       von nichts… wWr konnten nicht ruhig und gleichgültig zusehen, wie man
       ungerechtfertigter Weise Menschen schlägt.“
       
       „Ich wurde gefragt: `Wochenendhaus, Wohnung, Auto – was brauchst Du noch?`
       Ich habe geantwortet: `Ich sehe keine Perspektive für meine Enkel.`“
       
       „Jeder Tag in dieser ganzen Geschichte wirft Belarus zurück, sowohl
       politisch als auch sozial und wirtschaftlich. Es ist eine verlorene Zeit,
       auf die zu schauen sehr unangenehm ist. Ich träume davon, in einem Land zu
       leben, in dem es nicht wichtig ist, wer Präsident ist. Einen Präsidenten
       sollte es geben, um ein Klima zu schaffen, in dem ein Präsident nicht nötig
       ist. Und nicht dafür, um der wichtigste Herrscher zu sein, der für alle
       entscheidet, was sie tun sollen.“
       
       „Mein Sohn liegt dort begraben. Natürlich möchte ich zurück…“ ist die
       bittere Aussage von Elena, Mutter von vier Kindern. Geleitet von ihrem
       Gewissen hat sie die es abgelehnt, die hohe Rente für ehemalige
       Militärangehörige zu beziehen, die ihr in nächster Zukunft zugestanden
       hätte. Sie hat sich von der Idee einer intakten Familie und einem ruhigen
       Leben verabschiedet. Weil sie sich daran erinnert hat, was Würde, Mut und
       der Eid bedeuten, den sie auf ihr Volk geschworen hat.
       
       Alle Exilanten haben viel durchgemacht. Sie weinen in der Fremde. Auch die
       Zurückgebliebenen haben viel durchgestanden und sie weinen auch. So ist
       heute die belarussische Weltkarte.
       
       Es ist sinnlos darüber zu streiten, wer es schwerer hat. Die, die gegangen
       sind oder die, die geblieben sind. Für anständige Menschen ist die
       Situation jetzt unerträglich, wo immer sie sich auch gerade befinden. Aber
       wir verlieren nicht den Glauben an Veränderungen und an den Sieg des Guten
       über den Wahnsinn.
       
       Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey]
       
       17 Feb 2022
       
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