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       # taz.de -- Autorin über Frauen im Literaturbetrieb: „Immer noch benachteiligt“
       
       > Die Hamburger Autorin Nicole Seifert hat ein Buch darüber geschrieben,
       > wie der Literaturbetrieb mit Frauen umgeht. Ihre Bilanz fällt schlecht
       > aus.
       
   IMG Bild: Allein unter Männern: Sigrid Löffler im Jahr 1991 im „Literarischen Quartett“
       
       taz: Frau Seifert, wenn Sie heute in Ihrem Bücherregal nachzählen: Auf
       welches Geschlechterverhältnis kommen Sie? 
       
       Nicole Seifert: Das müsste ich dringend machen. Das Verhältnis hat sich in
       den letzten drei Jahren enorm verändert. Ich glaube, dass inzwischen die
       Autorinnen überwiegen dürften. Auch weil ich Platz brauchte und dabei ein
       paar männliche Autoren ausziehen mussten.
       
       Ihr Buch „Frauen Literatur“ – dabei ist „Frauen“ durchgestrichen“ –
       bilanziert die Situation von Frauen im Literaturbetrieb. Warum braucht es
       diesen Fokus noch? 
       
       Weil Autorinnen leider in vielen Bereichen des Literaturbetriebs immer noch
       benachteiligt sind. Das war mir selbst nicht bewusst und ich bin dem
       nachgegangen, weil mir auffiel, dass Autorinnen im Feuilleton
       unterrepräsentiert sind. Das ist inzwischen auch mit wissenschaftlichen
       Studien belegt und lässt sich auf viele andere Bereiche ausweiten.
       Autorinnen werden anders besprochen und vermarktet als Autoren und auch bei
       Literaturpreisen gibt es immer noch ein großes Ungleichgewicht. Es lohnt
       sich, das zu hinterfragen.
       
       Woran liegt es, dass die Feuilletons weniger Texte von Frauen* besprechen? 
       
       Ich kann mir das nur mit unserem erlernten Blick erklären. Das fängt in der
       Schule an, wo nur männliche Autoren gelesen werden. Es ist wirklich die
       Ausnahme, dass da mal eine Autorin vorkommt – und zwar leider bis heute.
       Implizit lernen wir dadurch: Was literarisch wertvoll ist, stammt von
       Männern. Was Frauen schreiben, kann nichts sein. Und das stimmt einfach
       nicht.
       
       Im Jahr 2020 hatte die Bremer Schüler*innenvertretung in einem
       offenen Brief beklagt, das Abiturthema Deutsch trage zurecht den Titel
       „Zeit für Helden“ – denn die Auswahl der Figuren und Bücher enthalte nur
       „Helden“, aber keine „Held*innen“. 
       
       In der Schule lernen Mädchen, sich in männliche Protagonisten
       hineinzuversetzen, ernst zu nehmen, was Männer schreiben. Andersherum wird
       das nicht gelernt. Die Jungs lernen nicht, sich in weibliche
       Protagonistinnen hineinzuversetzen und ernst zu nehmen, was Frauen
       schreiben. Bis heute kann von Gleichberechtigung keine Rede sein. Das
       Kreisen um Männerthemen hat Folgen für unsere Gesellschaft. Und zwar keine
       guten.
       
       Die Schulbehörde Bremen hat den Kanon mit der Lektüre der zu Unrecht
       vergessenen Louise Aston erweitert. Ist das der richtige Weg? 
       
       Das Verhältnis sollte möglichst schnell ausgeglichen sein. Die Werke von
       Autorinnen gibt es ja, die müssen nicht erst geschrieben werden. Genauso
       wichtig finde ich, dass die Werke von Männern, die gelesen werden,
       kritischer betrachtet werden. Von „Faust“ über „Homo Faber“ bis zur
       Gegenwartsliteratur ist es oft die Geschichte des alten Mannes, der das
       junge Mädchen liebt. Das ist vollkommen aus der Zeit gefallen.
       
       Sie haben in den letzten drei Jahren ausschließlich Texte von Autorinnen
       gelesen. Was ist Ihnen dabei aufgefallen? 
       
       Was mich überrascht hat, ist, dass bestimmte Bilder, Metaphern und Themen
       in der Literatur von Frauen omnipräsent sind. Zum Beispiel das
       Ausgeschlossensein aus der Gesellschaft, das Eingeschlossensein im Haus und
       die Erwartungen, die an Frauen gestellt wurden und werden. Autorinnen
       beschreiben über Jahrzehnte und Jahrhunderte, wie Protagonistinnen krank
       werden, weil sie versuchen diese Erwartungen zu erfüllen. Und das zieht
       sich bis heute durch.
       
       Der Begriff „Frauenliteratur“ kann weg, sagen Sie. Gilt das auch für eine
       Bezeichnung wie „weibliches Schreiben“? 
       
       Der Begriff „Frauenliteratur“ wird immer abwertend verwendet. Es ist
       unklar, was er genau bezeichnet, er steht für etwas, womit Männer sich
       nicht befassen müssen. Deshalb finde ich, kann der Begriff weg.„Weibliches
       Schreiben“ als Bezeichnung wiederum hat schon eine gewisse Berechtigung.
       
       Inwiefern? 
       
       Nicht aus biologischen Gründen, weil Frauen irgendwelche Genres nicht
       beherrschen …,
       
       … wie es der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki im Jahr 2000 behauptet
       hat …,
       
       … sondern weil sie wegen der sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen
       andere Themen hatten. Es lohnt sich, das als „weibliches Schreiben“ zu
       betrachten. Wir können also noch nicht alles gleich betrachten, weil
       weibliches Schreiben komplett außen vor gelassen wurde in der
       Literaturgeschichte, im Kanon, in der Schule.
       
       Der französische Literaturtheoretiker Roland Barthes konstatierte Ende der
       1960er den „Tod des Autors“. Stimmen Sie ihm zu? 
       
       Oh, großes Thema! Barthes hat mich während meines Studiums sehr überzeugt.
       Dass der Text für sich steht und man ihn nicht eins zu eins auf die
       Autor*in zurückbeziehen kann. Barthes selbst hat Ende seines Lebens eine
       Kehrtwende vollzogen in dem Essay „Die helle Kammer“, wo er doch eine
       Beziehung zwischen dem schreibenden Subjekt und dem Text herstellt. Ich
       würde sagen, der Text steht für sich, aber gerade wenn wir von weiblichem
       Schreiben sprechen, sagt die Autor*innenschaft etwas über die Rolle der
       Frauen in der Gesellschaft und über ihre Lebensbedingungen aus. Da keine
       Beziehung zu sehen, fände ich zu weitgehend.
       
       „Es ist unerlässlich, dass die Frau die Frau schreibt“, schrieb die
       Feministin Hélène Cixous 1975. „Und der Mann den Mann.“ 
       
       Es ist schwierig, das so binär zu denken, das gilt auch für mein Buch. Ich
       finde es dennoch wichtig festzuhalten, dass Themen, die weiblich konnotiert
       sind, abgewertet werden. Wenn Frauen über ihren Körper schreiben, wird das
       anders bewertet, als wenn Männer es tun. Philip Roth beispielsweise schrieb
       über Potenz und Prostata und war jahrelang nobelpreisverdächtig. Wenn
       Frauen über ihre Menstruation schreiben, werden sie von der Kritik
       abgestraft. Junge Autorinnen schreiben heute mit großer Entschlossenheit
       über ihren Körper, gegen alle Widerstände, und das finde ich großartig.
       
       Nun haben wir viel über Literatur von Frauen und Männern gesprochen. Was
       ist mit LGBTQI*- Autor*innen? 
       
       Ich hoffe, dass queere Literatur auch aus der Nische herauskommt, genau wie
       die Literatur von Schwarzen Autor*innen und Autor*innen of Colour.
       Die Kunst weißer Männer darf nicht für alle verbindlich sein und der Rest
       gilt als spezifisches Interesse. Wenn ich mir die Verlagsprogramme angucke,
       habe ich den Eindruck, dass langsam auch queere Literatur, die sich genau
       wie Frauenliteratur gegen das Label wehrt, in den Mainstream gerät. Und das
       freut mich sehr.
       
       Gehören queere, nicht-binäre Perspektiven in den Kanon? 
       
       Auf jeden Fall! Es geht ja darum, das völlig Überkommene des Kanons
       aufzubrechen: das Reproduzieren dessen, was immer war. Der Kanon an sich
       ist nichts Schlechtes. Ich finde wichtig, dass es Werke gibt, die so viele
       kennen, dass man sich bei der Besprechung von neuen Texten auf sie beziehen
       kann.
       
       Wie sollte der Kanon aussehen? 
       
       So bunt und divers wie möglich. Ich finde, wir haben mehr als genug weiße
       Männer gelesen. Bei den Schullektüren herrscht immer noch ein krasses
       Ungleichgewicht und da müssen wir gegensteuern, weil das ein verzerrtes
       Bild von der Welt vermittelt. Es müssen nicht alle weißen Männer raus,
       keine Aufregung, aber es muss richtig dagegengehalten werden. Diverse
       Literatur ist da, wir müssen sie nur einbeziehen.
       
       2 Oct 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carla Geiger
       
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