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       # taz.de -- Die These: Schadenfreude ist okay
       
       > Die Briten wollten den Brexit – und ärgern sich nun über das
       > Versorgungschaos. Darf man deshalb eine gewisse Genugtuung empfinden?
       > Unbedingt.
       
   IMG Bild: Gähnende Leere: Regale in der Fleischabteilung eines britischen Supermarktes
       
       Um es gleich vorwegzunehmen: Ich habe nichts gegen die Briten. Im
       Gegenteil, ich mag ihren Humor, ihre Sprache, ihre Landschaft, ihre Musik,
       ihren Tee und überlege, nächsten Sommer mal wieder hinzufahren.
       
       Und doch ist da, wenn ich die Berichte über das [1][Versorgungschaos in
       Großbritannien] lese, diese Schadenfreude. Leere Regale in den
       Supermärkten; Fisch, der in den Lagerhallen verrottet, weil niemand ihn
       abholt; Soldaten, die Benzin ausliefern müssen, weil es sonst keiner tut.
       Die Erklärung der britischen Regierung, das seien nur Startschwierigkeiten
       auf dem Weg in eine tolle eigenständige Zukunft, klingt wenig überzeugend
       angesichts der Probleme. Und ich denke: Selbst schuld, das habt ihr nun von
       eurem Brexit! Ihr wolltet ihn ja unbedingt.
       
       Es ist ziemlich schäbig, sich über die Sorgen anderer zu freuen, ja
       geradezu Genugtuung zu empfinden. Oder nicht?
       
       Ironischerweise ist Schadenfreude ein Wort, das – wie „kindergarden“ oder
       „gemutlichkeit“ – auch im Englischen verwendet wird, weil es dafür offenbar
       keine eigene treffende Bezeichnung gibt. Daraus könnte man ableiten, dass
       es sich um ein spezifisch deutsches Gefühl handelt. Aber das wäre dann doch
       etwas platt, Schadenfreude empfinden Menschen auf der ganzen Welt. Sie ist
       schlicht die fiese Schwester des Mitleids und wird von bestimmten Faktoren
       ausgelöst.
       
       Zum Beispiel von „Verdientheit“, wie [2][Lea Boecker] von der Leuphana
       Universität Lüneburg erklärt. Die Sozialpsychologin forscht zum Thema
       Schadenfreude. Wenn ein Unglück nicht einfach so über jemandem
       hereinbreche, sondern die Folge einer selbst gefällten Entscheidung sei,
       dann begünstige das Schadenfreude.
       
       Beim Brexit gilt das zumindest für die Regierung und die Hälfte der
       Bevölkerung, die für den Austritt stimmte. Die Idee eines vereinten Europas
       ist etwas sehr Wertvolles, Boris Johnson und Co haben sich von ihr
       verabschiedet. Insofern fühlt es sich irgendwie gerecht an, dass sie jetzt
       den Schaden davontragen. „Take Back Control“ lautete der Brexit-Slogan, das
       Gegenteil ist nun der Fall.
       
       Die Brexiteers bedienten bekanntlich auch [3][Ängste vor Überfremdung]. „We
       want our country back!“, rief [4][Nigel Farage] 2015, damals noch
       Ukip-Chef, auf einem Parteitag und forderte die Unabhängigkeit von der EU.
       Man konnte das genauso als Botschaft an Zugewanderte verstehen. Viele
       Briten stimmten für den Austritt, weil sie nicht mehr so viele
       OsteuropäerInnen aus der EU ins Land lassen wollten, geschweige denn
       Flüchtlinge.
       
       Nun ist ein Teil der Menschen tatsächlich weg, ihre Arbeitskraft fehlt und
       lässt sich nicht so leicht ersetzen, die Lieferketten funktionieren nicht
       mehr. Dass der Zusammenhang zwischen den Gründen für den Brexit und den
       Konsequenzen daraus so unmittelbar sei, befördere ebenfalls die
       Schadenfreude, sagt die Sozialpsychologin Boecker, „das hat einen noch
       abstrafenderen Charakter“. Und: „Manche Autoren sagen, Schadenfreude ist
       eine moralische Emotion.“
       
       Menschen neigen vor allem dann zur Schadenfreude, wenn sie sich dem
       Geschädigten gegenüber vorher unterlegen gefühlt haben, zeigen Studien. Die
       Emotion kann Hierarchien verschieben, sie reguliert unseren Selbstwert.
       Boecker erklärt: „Das ist eine psychologische Funktion von Schadenfreude:
       Man fühlt sich besser.“
       
       Schadenfreude sagt viel über denjenigen aus, der sie empfindet. Man könnte
       die Genugtuung über das Nach-Brexit-Chaos daher auch so lesen:
       Großbritannien hat sich gegen die EU und damit gegen uns entschieden, die
       Briten haben uns verlassen, obwohl wir gern mit ihnen zusammengeblieben
       wären. Der Brexit war eine Kränkung. Jetzt, da der Weg ohne uns doch recht
       holprig wird, sind wir wieder in der stärkeren Position.
       
       ## Das Chaos auf der Insel kann den Rest der EU stärken
       
       Das Bätschgefühl angesichts der Versorgungsengpässe lässt sich also
       ziemlich gut erklären. Es hat nicht nur eine psychologische, sondern auch
       eine politische Funktion. So traurig es ist: Dem Projekt Europa hilft es,
       wenn die Briten jetzt in Schwierigkeiten geraten. Das Chaos auf der Insel
       schreckt all jene ab, die vielleicht selbst mal mit einem Austritt
       geliebäugelt haben, es kann die Bindungen zwischen den übrig gebliebenen
       EU-Ländern stärken.
       
       Vor diesem Hintergrund ist ein bisschen Schadenfreude schon okay.
       Vorausgesetzt, den Briten geht es nicht wirklich schlecht. Wenn nicht mehr
       nur das Benzin knapp ist und Gemüse fehlt, sondern Menschen echte Not
       leiden, wenn es gar zu Aufständen kommen sollte, dann kippt – allem
       Brexit-Ärger zum Trotz – auch meine Schadenfreude sicherlich schnell in
       Mitleid und Sorge.
       
       Wie nahe diese Gefühle beieinanderliegen, konnte man übrigens in den
       vergangenen Wochen mit Blick auf die CDU erleben. Angesichts des schlechten
       Wahlergebnisses der Union war die Schadenfreude zunächst groß. Wenn man nun
       [5][Armin Laschet] sieht, wie er den Absprung nicht findet, gedemütigt von
       den eigenen Leuten – er kann einem inzwischen leidtun.
       
       Auch wenn man meint, dass die Briten mit dem Brexit die falsche
       Entscheidung getroffen haben und das nun zu spüren bekommen: Allzu
       überlegen sollte man sich nicht fühlen. Wie anfällig die Versorgungsketten
       auch bei uns sind, EU hin oder her, hat zuletzt die Klopapierkrise während
       der Pandemie gezeigt. Weil der Preis für Hartweizen so stark gestiegen ist,
       wird derzeit vor einem Nudelengpass gewarnt. Die hohen Gaspreise könnten in
       den kalten Monaten auch hierzulande zu einem echten Problem werden.
       Schließlich haben nur noch wenige einen alten Kachelofen in der Wohnung,
       den sie notfalls mit Kohle anheizen könnten.
       
       Es mag naiv klingen, aber toll wäre es schon, wenn die Briten sich das mit
       dem Brexit noch mal überlegen würden. Ein neues Referendum irgendwann,
       warum nicht? Zusammen wären wir stärker. Und netter zueinander: Dann gäbe
       es statt Schadenfreude wieder Empathie.
       
       11 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Benzin-Engpaesse-in-Grossbritannien/!5803775
   DIR [2] https://www.leuphana.de/institute/imo/personen/lea-boecker.html
   DIR [3] /Rassismus-nach-dem-Brexit-Referendum/!5315114
   DIR [4] /Ruecktritt-von-Ukip-Chef-Nigel-Farage/!5318620
   DIR [5] /Armin-Laschet-gibt-nicht-auf/!5807006
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Antje Lang-Lendorff
       
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