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       # taz.de -- Komödie „Zimmer 212“ im Kino: Ein ganz alltägliches Wunder
       
       > In der Komödie „Zimmer 212“ streut Regisseur Christophe Honoré mit
       > lässiger Hand Pointen und Überwirkliches. Selbst der Wille ist hier eine
       > Person.
       
   IMG Bild: Interessantes Personal: Maria, ihr Wille in Leopardenjacke und das jüngere Ich ihres Mannes
       
       Hinter dem Vorhang steckt, auf die Szene blickend, halbnackt: Maria
       Mortemart (Chiara Mastroianni), Rechtsprofessorin. Auf der Szene, im
       Zimmer, ist ihr Lover, Asdrubal Electorat (Harrison Arevalo), der seine
       unerwartet aufgetauchte Freundin loszuwerden versucht. Geturtel, Gezärtel,
       dann reicht es Maria, entschlossenen Schritts tritt sie hinter dem Vorhang
       hervor, schimpft, das habe sie nun davon, dass sie mit einem Studenten was
       anfängt.
       
       Voilà, das Melodram beginnt, die Komödie vielmehr, das Melodram als
       Komödie, schon an den Namen der Figuren kann man erkennen, dass der Ernst
       hier höchstens hinter dem Vorhang versteckt ist.
       
       Maria, eine attraktive Frau mittleren Alters, ist verheiratet, seit zwanzig
       Jahren, Asdrubal ist nicht der erste Seitensprung ihres Lebens, bei Weitem
       nicht (sehen wir sehr handgreiflich später), sie findet aber gar nichts
       dabei, im Lauf der Zeit nutzt sich der Sex mit dem Ehemann eben ab.
       
       Anders sieht das ihr Gatte, der den Namen Richard Warrimer trägt und,
       versichert er, ein Eheleben lang treu war. Es spielt ihn, schluffig trotzig
       gekränkt, der [1][Nouvelle-Chanson-Star Benjamin Biolay], der, in Komödien
       gibt es auch Besetzungspointen, im richtigen Leben einst mit Chiara
       Mastroianni verheiratet war, die ihre Rolle dagegen mit Energie und
       Entschlossenheit spielt. So jedenfalls trifft man sich wieder.
       
       Maria allerdings, im filmischen Leben, zieht erst einmal aus, wenn auch nur
       über die Straße. Vom Zimmer 212 im Hotel gegenüber hat sie den erst
       wütenden, dann rasch verlotternden Gatten sehr schön im Blick. Dann geht
       sie aus, es fällt Schnee, die Kamera blickt erst in den nachtschwarzen
       Himmel, als wollte sie die sehr künstlich wirkenden Flocken auffangen, dann
       sieht man die Straße, die man, wenn die Kamera nach hinten und oben fährt
       oder schwebt, als Modell erkennt, das die eigene Modellhaftigkeit alles
       andere als verbirgt.
       
       Klares Signal: Wir verlassen nun den Raum des Realen, und da sieht man dann
       schon, überhausgroß, die Köpfe von Maria und Richard über den Dächern. Sie
       streiten: ein Modell-, ein Schnee-, ein Traumdialog.
       
       Noch was zur Straße. Sie ähnelt einerseits der Wirklichkeit sehr. Vor allem
       tut es das Kino 7 Parnassiens, das sich im Erdgeschoss des Hauses befindet,
       in dem Maria und Richard ausgesprochen bildungsbürgerlich wohnen. Das Kino
       gibt es tatsächlich, im 14. Arrondissement von Paris, Montparnasse. Es sah
       bis vor Kurzem so aus wie im Film, und auch die Filme, die laut Plakat hier
       laufen, existieren real und waren zur Drehzeit von Zimmer 212 auch wirklich
       im Kino, unter anderem „Grâce à Dieu“ von François Ozon.
       
       Ebenfalls wirklich ist das legendäre Jazz-Age-Café-Restaurant namens
       Rosebud auf der anderen Seite, einst der Hangout etwa von Simone de
       Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Nur liegen das Café und das Kino in der
       realen Realität nur um die Ecke, nicht in derselben Straße, die es so, wie
       der Film sie zeigt, in Wirklichkeit gar nicht gibt. So verhält sich das
       ungefähr auch mit dem Realitätsbezug von „Zimmer 212“ insgesamt: Man
       erkennt vieles wieder, trotzdem hebt die Geschichte bald buchstäblich ab.
       
       Maria schlägt die Augen auf und erwacht aus dem Modellstraßentraum. Nur ist
       auch das, wohin sie erwacht, ein Traum, ein Traum im Traum, den die
       Kinobilder als Reales vorführen, denn wie anders soll man es deuten, dass
       sich eine Tür zum Nebenzimmer auftut und es liegt im Bett, neben sich ein
       altmodisches Radio-Kassetten-Gerät, aus dem Klaviermusik perlt, der Gemahl
       Richard Warrimer, rauchend.
       
       ## Seltsam und magisch
       
       Das ist an sich schon erstaunlich, eben war er noch drüben. Erstaunlicher
       noch: Er ist jung, so jung, wie er war, er ist schön, so schön, wie er war,
       als Maria und er sich einst kennenlernten – es spielt ihn in dieser Version
       nicht Benjamin Biolay, sondern Vincent Lacoste. Dieser Richard ist, obwohl
       so erstaunlich verjüngt, auf dem aktuellen Stand der späteren Dinge, und
       bringt sein Unbehagen über ihr Verhalten ihm (dem späteren Ihm) gegenüber
       zum Ausdruck.
       
       Seltsam und magisch genug, aber doch erst der Anfang. Denn es marschieren
       noch weitere Figuren aus der Vergangenheit und Gegenwart auf, die bereits
       erwähnten Liebhaber nur zum Beispiel, Richard sieht sich mit der
       gleichfalls nicht gealterten ehemaligen Klavierlehrerin konfrontiert. Das
       Drehbuch nimmt die Fragen, die sich stellen, einerseits ernst – etwa, wie
       das ist mit der Haltbarkeit der Liebe angesichts vergehender Jugend oder
       wer das ist, den man und frau im Spiegel sieht und erkennt oder auch nicht.
       
       Andererseits nimmt Honoré die Pointen, die sich ergeben, ohne sie zu
       erzwingen, sehr gern mit. Im Gesamtarrangement ergibt das ein
       seriocomico-boulevardeskes Register, das (wie im Übrigen auch die Namen der
       Figuren) an die Stücke von Alan Ayckbourn erinnert. Boulevardesk ist nicht
       zuletzt das Spiel mit den Türen. Sie gehen auf, sie gehen zu, Lebende und
       Tote und Verflossene erscheinen, die Zeiten durchdringen einander, und
       Menschen mittleren Alters (Honoré selbst ist Jahrgang 1970) ziehen
       Zwischenbilanz zu den Liebesentscheidungen und Beziehungsfährnissen ihres
       Lebens.
       
       All das ist mit einer Selbstverständlichkeit in Szene gesetzt, als ganz
       alltägliches Wunder. Die Leichtigkeit, die Künstlichkeit, das Herz für den
       intellektuellen Boulevard, all das verweist auch auf den [2][großen
       Filmemacher Alain Resnais], der mit „Smoking/No Smoking“ oder „Coeurs“
       Stücke von Ayckbourn auf ähnlich bewusst artifizielle Weise verfilmt hat.
       
       ## Mehr als 20 Kinderbücher
       
       Geschrieben hat das Drehbuch allerdings Christophe Honoré selbst. Er ist ja
       auch ein vielseitiger und ausgesprochen fleißiger Mann, hat als
       Filmkritiker begonnen, ist als Theater- und Opernregisseur sehr aktiv, hat
       zudem mehr als zwanzig Kinder- und Jugendbücher verfasst. Als Filmregisseur
       wurde er mit dem Musicalfilm „Chanson der Liebe“ (2008) international
       bekannt, ist beim Festival in Cannes regelmäßig vertreten, [3][im
       Wettbewerb zuletzt mit „Sorry Angel“ (2018)], einem melancholischen
       Historienfilm über die schwule Liebe und den tragisch frühen Tod in
       Zeiten von Aids in den neunziger Jahren.
       
       Den hatte er, selbst offen schwul, vor „Zimmer 212“ gedreht, aber schon der
       nächste Film zeigt, wie wenig Honoré auf schwule Stoffe oder auf
       Musikalisches oder überhaupt auf irgendwas festgelegt ist. In Frankreich
       ist unterdessen schon sein nächstes Werk in die Kinos gekommen, ein (mehr
       oder weniger offenbar) Dokumentarfilm mit dem Titel „Guermantes“, der eine
       Theatertruppe und den Regisseur Honoré bei den Proben zu einem Proust-Stück
       zeigt, das dann wegen der Pandemie nicht aufgeführt werden kann.
       
       In „Zimmer 212“ gibt es auf das Projekt schon einen lässig eingestreuten
       Vorschein, eine Person namens Leonor Cambremer spielt am Rand eine Rolle,
       den Namen trägt eine gleichfalls minder wichtige Figur in Prousts „Auf der
       Suche nach der verlorenen Zeit“.
       
       So streut Honoré lässig, mit rechts, mit links, auf große Gesten
       verzichtend, Verweise, Gedanken, Pointen, Ernstes, Frivoles, Überwirkliches
       und allzu Reales. Als hätte er noch gefehlt, spaziert sogar Maria
       Montemarts Wille höchstpersönlich ins Bild, allegorisch zu nehmen, von
       Stéphane Roger als Charles-Aznavour-Reminiszenz gespielt. Das erste Bild,
       und auch das letzte, gehört aber Chiara Mastroianni, die diesem
       Ensemblefilm das Zentrum gibt, dessen Energie bis zum Schluss nicht
       versiegt.
       
       14 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Ekkehard Knörer
       
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