URI: 
       # taz.de -- „Copservation“ über Polizeivergehen: „Das Einzelfall-Narrativ ist absurd“
       
       > Das Netzwerk „Copservation“ will polizeiliches Fehlverhalten
       > dokumentieren. Fast jeden Tag erhalten die Mitglieder in sozialen Medien
       > Berichte über Vergehen.
       
   IMG Bild: Besondere Anforderungen an Verhalten: ein Polizist präsentiert eine Dienstwaffe
       
       taz: In Dessau ist vor Kurzem eine Polizistin suspendiert worden, [1][weil
       sie eine Brieffreundschaft mit dem rechtsextremen Attentäter von Halle
       geführt hat]. Schon wieder ein sogenannter Einzelfall in der Polizei? 
       
       Copservation: Die Dessauer Polizei hat mit vier Todesfällen traurige
       Bekanntheit erreicht: Hans-Jürgen Rose, Mario Bichtemann, Oury Jalloh und
       Yangjie Li. Bei diesen Fällen wird Polizist:innen vorgeworfen, direkt
       am Tod der Personen beteiligt gewesen zu sein oder die Untersuchungen
       vertuschen zu wollen. Alle Fälle haben gemeinsam, dass die Ermittlungen
       gegen die beteiligten Polizist:innen eingestellt wurden – trotz
       schwerwiegender Vorwürfe und konträrer Zeug:innenaussagen.
       
       Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass Polizist:innen, die Kontakt
       mit Rechtsextremen pflegen, bei der Dessauer Polizei arbeiten können, bis
       das öffentlich wird, wie jetzt zuletzt bei der Polizeikommissarin. Bei der
       Anzahl und Schwere der Vorfälle erneut das Narrativ des Einzelfalls zu
       verwenden, ist unserer Ansicht nach einfach nur absurd.
       
       Mit „Copservation“ haben Sie es sich [2][zum Ziel gemacht, verschiedenste
       Fälle von polizeilichem Fehlverhalten zu dokumentieren], über die seit 1990
       in der Presse berichtet wurde. Was wollen Sie damit erreichen? 
       
       Wir haben oft das Argument gehört: Okay, aber 98 Prozent der
       Polizist:innen sind rechtschaffen. Weil wir politisch interessiert sind
       und uns auch schon länger mit dem Thema beschäftigen, ist uns aufgefallen,
       dass es sehr viele Fälle gibt, die nicht öffentlich bekannt sind. Wir
       bekommen fast jeden Tag Presseberichte über Polizeivergehen über soziale
       Medien zugespielt. Wir wollen vermitteln: Es gibt eben nicht nur die paar
       bekannten Fälle. Und wir wollen sicherstellen, dass die Politik sich nicht
       darauf ausruhen kann, dass nur ein paar große Fälle ans Tageslicht kommen.
       Sondern auch die kleinen so zusammengetragen werden, dass man am Ende der
       Wirklichkeit näher kommt.
       
       Das schreiben Sie auch auf Ihrer Website: „Wir vermuten einen strukturell
       begründeten, problematischen Dauerzustand innerhalb der deutschen Polizei.“
       Wie kommen Sie darauf? 
       
       Eine Studie der Ruhr-Universität in Bochum geht davon aus, dass das
       Dunkelfeld von polizeilichem Fehlverhalten mehr als fünfmal größer ist als
       das Hellfeld. Laut der Studie wird in 86 Prozent der Vorfälle kein
       Strafverfahren eingeleitet. Blicken wir mal zurück in der deutschen
       Geschichte ab der Wende: Polizist:innen haben schon in den 1990er
       Jahren bei Berlin und in Brandenburg Vietnames:innen verprügelt. Im
       Rahmen des Hamburger Polizeiskandals wurde von Scheinhinrichtungen
       berichtet. Beim G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 soll die Polizei die
       Grundrechte der Demonstrierenden verletzt haben. Wir sehen darin einen
       Dauerzustand, der sich über 30 Jahre hinzieht.
       
       Woran liegt das? 
       
       Wir sehen selten einen Aufklärungswillen unter Polizist:innen selbst.
       Zusätzlich hat die Polizei eine große Lobby innerhalb der Berichterstattung
       und der weißen Mehrheitsgesellschaft. Vergehen in der Polizei werden oft
       nur durch Zufall entdeckt, sodass wir davon ausgehen müssen, dass die
       wirkliche Anzahl sehr hoch ist. Ein Beispiel sind die rechten Chatgruppen
       in Nordrhein-Westfalen, die 2020 aufgeflogen sind. Man hat die erste
       Chatgruppe entdeckt, dann nach und nach immer mehr. Aber eben nur, weil
       durch Zufall in ein Wespennest gestochen wurde.
       
       Aber ist das schon ein strukturelles Problem? 
       
       Es endet ja nicht bei Einzelpersonen. Wenn in einer Chatgruppe fünf
       Personen extremistische Symbole teilen, was ist dann mit den anderen 35
       Menschen, die still mitlesen? Ein anderes Beispiel: In Schönfließ bei
       Berlin hat 2008 ein Polizist einen flüchtigen Mann erschossen und wurde
       dafür zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Seine Kolleginnen, die dabei
       waren, haben bei ihrer Aussage nicht die Wahrheit gesagt oder angegeben,
       dass sie sich nicht erinnern. Eines wird auf einmal zu drei Fehlverhalten.
       
       Es gibt Beispiele von Polizist:innen, die trotz Fehlverhaltens Karriere
       machen oder zumindest im Dienst bleiben konnten. Ein Polizist in
       Brandenburg hat nachweislich an Neonazi-„Heldengedenkmärschen“
       teilgenommen. Als das rauskam, wurde er versetzt. In der nächsten
       Dienststelle fiel er wieder durch rassistische Verhaltensweisen auf. Man
       fragt sich: Warum sind sie nicht schon beim ersten Vergehen rausgeflogen?
       Wenn man all diese Akteur:innen mit berücksichtigt, zeigt sich ein
       dauerhaftes Problem.
       
       Bundesinnenminister Seehofer hat sich [3][lange gegen eine Studie zu Gewalt
       und Rassismus in der Polizei gewehrt]. Müsste die Politik nicht mehr
       Aufklärungswillen zeigen? 
       
       Da sehen wir leider ähnliche Muster. Ein Beispiel ist Lorenz Caffier. Der
       CDU-Politiker war 14 Jahre Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, trotz
       Polizeiskandalen und Menschenrechtsverletzungen, die durch das Europäische
       Gericht festgestellt worden sind. In seiner Amtszeit entstand 2016 das
       rechtsextreme Prepper-Netzwerk Nordkreuz mit vielen Mitgliedern aus Polizei
       und Bundeswehr. Und auch da fragen wir uns: Warum werden keine politischen
       Konsequenzen gezogen?
       
       Die gab es erst, als bekannt wurde, dass er wohl eine Waffe von dem
       Schießstand in Güstrow gekauft haben soll, der auch Nordkreuz als
       Umschlagplatz gedient hat. Das ist erschreckend: Es scheint, als werde
       nicht proaktiv gehandelt, sondern erst mit dem zufälligen Aufdecken des
       Problems zugegeben, dass es ein Problem gibt. Und Politiker:innen mit
       Polizeiskandalen können jahrelang ohne Konsequenzen im Amt bleiben.
       
       Was war die Motivation, ein so umfassendes Projekt ehrenamtlich zu
       beginnen? 
       
       Manche von uns kommen ursprünglich aus Mecklenburg-Vorpommern. Freunde von
       uns standen auf der „Tag X“-Todesliste von Nordkreuz. Wir dachten: Wenn das
       solche Ausmaße einnimmt und in unsere Freund:innenkreise eindringt,
       dann müssen wir irgendwas tun. Wenn es die Politik schon nicht macht. Ein
       zweiter Grund ist die Ermordung von George Floyd. Zu sehen, dass viele
       Menschen in Deutschland, die von rassistischer Polizeigewalt betroffen
       sind, ihre Stimme erheben, hat uns bestärkt, das Projekt zu beginnen.
       
       Rechte Terrorgruppen wie NSU 2.0 und [4][Nordkreuz] haben über
       Polizeicomputer persönliche Daten gesammelt und Menschen damit bedroht. Ist
       Ihre Arbeit gefährlich? 
       
       Wir machen uns durchaus Gedanken über unsere Sicherheit. Schließlich wissen
       wir, dass politische Gegner:innen Todeslisten anlegen. Entsprechend
       haben wir Vorkehrungen getroffen. Zum Beispiel versuchen wir, relativ wenig
       über uns als Privatpersonen öffentlich werden zu lassen. Aber das wirklich
       Beunruhigende daran ist ja, dass man sich darüber überhaupt Gedanken machen
       muss, nur, weil man über Polizeivergehen berichtet. Das kann einem schon
       Sorgen bereiten, wenn man überlegt, wie es um diese Behörde bestellt sein
       muss, die eigentlich für unsere Sicherheit sorgen soll.
       
       Sie haben sich entschieden, auch Vergehen zu dokumentieren, die
       Polizist:innen außerhalb des Dienstes begangen haben. Manch eine:r
       würde sagen: Was man in der Freizeit anstellt, hat doch eigentlich nichts
       mit dem Beruf zu tun. 
       
       Klar kann man das sagen. Aber wir sehen bei Polizist:innen eine
       besondere Verantwortung gegenüber den Mitbürger:innen. Sie werden an Waffen
       ausgebildet und lernen beruflich, Menschen zu überwältigen. Und deswegen
       finden wir es auch wichtig, an ihr Freizeitverhalten andere Maßstäbe
       anzulegen. Wenn Polizist:innen sich auf den „Tag X“ vorbereiten, ist
       das unter anderem in der Freizeit. Das kann man nicht trennen. Das
       Bundesbeamtengesetz, Paragraf 61, sagt, dass das Verhalten innerhalb und
       außerhalb des Dienstes der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden muss,
       die der Beruf erfordert. Wenn ein Polizist Feierabend hat, legt er zwar die
       Uniform ab, aber nicht die Pflichten.
       
       Insgesamt sind etwas weniger als 800 Fälle eingezeichnet. Klingt das nicht
       fast etwas wenig, seit 1990? 
       
       Es ist kompliziert. Wir sind abhängig von der Berichterstattung, auf die
       wir uns größtenteils stützen. In manchen Zeitungsberichten heißt es
       beispielsweise: Letztes Jahr gab es 150 Ermittlungen wegen
       Rechtsextremismus in der Polizei von NRW. Und weil wir nur diese
       Information haben, müssen wir 150 Fälle als einen aufnehmen. Das schmälert
       die Zahl. Und viele Fälle, die wir bereits recherchiert haben, müssen erst
       noch in der Datenbank erfasst werden.
       
       Schaut man auf [5][die „Copservation“-Karte], gibt es nur 23 Fälle von
       Racial Profiling. Widersprechen Sie nicht so Ihrem Anliegen, statt es zu
       stützen? 
       
       Ja, das stimmt. Wenn man alle Berichte von Betroffenen und Initiativen mit
       aufnehmen würde, dann wäre die Zahl deutlich größer. Dazu kommt, dass
       Menschen, die von Racial Profiling betroffen sind, keine Lobby haben,
       deshalb werden auch weniger der Fälle bekannt. Aber selbst Berlins
       Innensenator Andreas Geisel hat inzwischen zugegeben, dass Racial Profiling
       scheinbar zur polizeilichen Praxis gehört.
       
       Gerade letzte Woche hat die Berliner Polizei erstmals einen Fall von Racial
       Profiling als solchen anerkannt. Uns ist bewusst, dass wir nur die Spitze
       eines Eisbergs abbilden können: Die Karte hat Aussagekraft, aber sie wird
       nie vollständig sein. Schon die Zahl der bereits bekannten Fälle von
       polizeilichen Vergehen ist so hoch, dass wir damit kaum hinterherkommen. Es
       liegt noch viel Arbeit vor uns.
       
       10 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Suspendiert-nach-Brieffreundschaft/!5802560
   DIR [2] https://www.copservation.de/aboutus
   DIR [3] /Rassismus-bei-der-Polizei/!5714864
   DIR [4] /Waffenaffaere-um-Ex-Minister-Caffier/!5796237
   DIR [5] https://www.copservation.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Emeli Glaser
       
       ## TAGS
       
   DIR Polizei
   DIR Rechtsextremismus
   DIR Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
   DIR GNS
   DIR IG
   DIR Schwerpunkt Rechter Terror
   DIR Gerichtsprozess
   DIR Oury Jalloh
   DIR Polizeigewalt
   DIR Rechtsextremismus
   DIR Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Kolumne Red Flag
   DIR George Floyd
   DIR Schwerpunkt Rassismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Mordfall Oury Jalloh: „Ich schwöre, ich wars nicht“
       
       Vor 17 Jahren verbrannte Oury Jalloh. Wenn er sich nicht selbst getötet
       hat, wer dann? Die taz fragte am Einsatz beteiligte Polizisten.
       
   DIR NSU-Ausschuss in Mecklenburg-Vorpommern: Behörden im Fokus
       
       Mecklenburg-Vorpommern hat zwar sehr spät einen Untersuchungsausschuss zum
       NSU eingesetzt, dafür aber mit ausgesprochen weitem Auftrag.
       
   DIR Vorfall bei AfD-Veranstaltung 2019: Freie Fahrt für Ingo Walter F.
       
       Bei einem AfD-Event fährt ein Rentner in eine Gegendemo. Die Polizei
       ermittelt nicht gegen ihn. Stattdessen müssen linke Aktivist:innen vor
       Gericht.
       
   DIR Fall Oury Jalloh: Brandsimulation stützt Mordthese
       
       Ein Sachverständiger hat den Brand in der Dessauer Polizeizelle
       originalgetreu simuliert – mit einem eindeutigen Ergebnis.
       
   DIR Zeuge von Polizeimaßnahme vor Gericht: Besser gar nicht hinschauen
       
       Werner P. wollte Polizeigewalt bezeugen – jetzt ist der Hamburger wegen
       Verleumdung angeklagt. Einmischung in Polizeiaktionen wird so
       kriminalisiert.
       
   DIR Polizei durchsucht „Berserker-Clan“: Razzia bei mutmaßlichen Nazis
       
       Bundesweit ist die Polizei gegen die Gruppe „Berserker-Clan“ vorgegangen,
       verhaftet wurde aber niemand. Die Mitglieder sollen Aufstandsfantasien
       gehegt haben.
       
   DIR Rechtsextremismus bei Polizei NRW: 53 Nazi-Vorfälle bestätigt
       
       Vor einem Jahr wurden zahlreiche Verdachtsfälle auf Rechtsextremismus unter
       Polizist:innen in NRW bekannt. Jetzt ist klar: Am Verdacht war oft was
       dran.
       
   DIR 17-jähriger über Rassismus: „Das Polizeiproblem ist massiv“
       
       Musa Farhan wechselt die Straßenseite, wenn er die Polizei sieht. Im April
       attackierten Beamten den 17-jährigen nach einer Demo gegen Racial
       Profiling.
       
   DIR Schwerpunkte der nächsten Koalition: Dasselbe in Grün
       
       Im Wahlkampf spielten Polizeigewalt und rechtsextreme Netzwerke kaum eine
       Rolle. Auch mit der nächsten Regierung dürfte sich das nicht ändern.
       
   DIR Nach Mord an George Floyd: Ex-Cop Chauvin legt Berufung ein
       
       Derek Chauvin wurde im Juni wegen Mordes an George Floyd zu 22,5 Jahren
       Haft verurteilt. Nun geht der frühere Polizist gegen das Urteil in
       Berufung.
       
   DIR Rassistische Polizeigewalt in den USA: Täschchen statt Reform
       
       In Minnesota kommt es bei Kontrollen immer wieder zu tödlichen
       Polizeischüssen. Ein neuer Vorschlag aus dem Innenministerium sorgt für
       Kritik.