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       # taz.de -- FIND-Festival an der Berliner Schaubühne: Scheiß auf die Nachhaltigkeit
       
       > Radikal-Performerin Angélica Liddell hält nichts von MeToo oder Fridays
       > for Future. Fraglich, ob es derzeit einen Abend braucht, der das
       > Patriarchat feiert.
       
   IMG Bild: Wagners „Tristan und Isolde“-Mythos trifft Liddells „Liebestod“ auf spanischen Stierkampf
       
       Das gab es in Berlin schon lange nicht mehr: Zuschauer, die aus dem Saal
       getragen werden, weil sie beim Blick auf die Bühne ohnmächtig geworden
       sind. Begleitet von solchen, die demonstrativ (auf eigenen Beinen) den Saal
       verlassen. Dabei hatte Angélica Liddell nur wiederholt, was sie schon vor
       zehn Jahren exerziert hat: In Trauerflor sitzt sie mit Rotwein und Weißbrot
       am Tisch und zelebriert ihre persönliche Messe – sie ritzt sich mit
       Rasierklingen in die Beine, saugt ihr Blut mit dem Brot auf und verspeist
       es.
       
       Mit Liddell könnte man sagen: Angesichts des unmessbaren Leids in der Welt,
       das wir alle täglich tolerieren, wirkt eine Ohnmacht wegen ein paar Tropfen
       Blut zynisch – aber was soll man machen, wenn der Kreislauf versagt …
       
       Kaum anzunehmen, dass das Publikum nicht weiß, worauf es sich einlässt:
       Liddell ist zum mindestens vierten Mal an der Schaubühne zu Gast, und auch
       die Berliner Festspiele hatten ihr 2015 einen Schwerpunkt beim Festival
       „Foreign Affairs“ gewidmet. Beim [1][FIND-Festival 2018 zeigte sie einen
       ihrer fulminantesten Abende].
       
       ## Masturbation mit Oktopus
       
       Damals nahm sie einen französischen Kannibalen, der in den 1980er Jahren
       ein Mädchen getötet und gegessen hatte, als Vorlage, um die totale Hingabe
       und das scheinbar personifizierte Böse zu feiern. Acht nackte junge Frauen
       masturbierten in einem animalischen Veitstanz mit toten Oktopussen – deren
       Gestank trieb auch damals einige Menschen aus dem Saal.
       
       Ihre neue Arbeit „Liebestod“, uraufgeführt im Sommer in Avignon, widmet
       sich da vergleichsweise zarten Stoffen: dem Wagner’schen „Tristan und
       Isolde“-Mythos und dem spanischen Stierkampf. Doch auch hier geht es um
       nichts weniger als die Sehnsucht nach absoluter Verschmelzung – und,
       angelehnt an ihren „Auferstehungszyklus“ 2014/15, nach Transzendenz und
       Spiritualität.
       
       Diesmal steht ihr der berüchtigte Torero Juan Belmonte Pate, der den
       Stierkampf als religiösen Akt begriff und 1.650 Tiere in der Arena tötete –
       bevor er sich nach seiner Karriere selbst das Leben nahm.
       
       Liddell wechselt vom Trauerkleid ins Brautkleid in die Torero-Hosen,
       wünscht sich vom ausgestopften Stier auf der Bühne die Vergewaltigung,
       schwenkt den Weihrauch und zelebriert den Abend als orthodoxe Messe, als
       Pieta und Trauerfeier.
       
       ## Abgesang auf die eigene Kunst
       
       Ein Abgesang auf ihre eigene Kunst, die sich aus mythologischen Quellen
       speist, sich von Extremkünstlern wie Caravaggio und Artaud leiten lässt,
       Schönheit, bedingungslose Liebe, besinnungsloses Begehren und die Freiheit
       der Kunst feiert. Ein Hohelied auf das Anti-Rationale und Anti-Moralische,
       bei der die Publikumsbeschimpfung nicht fehlen darf.
       
       Die Gefühllosigkeit, Gleichgültigkeit, Gottlosigkeit klagt Liddell an – und
       all jene Künstler, die wie „Beamte, Statisten, Techniker“ auf ihre
       „rechtlichen Ansprüche“ pochen, all jene Zuschauer, die einen „Pasolini
       ohne Pasolini“ wollen, einen „Genet ohne Genet“. Auch die
       Fridays-for-Future-Generation kriegt ihr Fett weg: „Eisig, scheinheilig,
       geizig und umweltbewusst würzen sie punktgenau ihren nachhaltigen
       Durchfall. Scheiß auf die Nachhaltigkeit.“
       
       Liddell beschwört die Theokratie, die überrationalisierte Welt habe die
       Menschen zu Idioten gemacht. Ihre Worte sind voller Poesie und Furor – die
       Spanierin speit sie heraus wie ein Vulkan seine kochende Lava. Sie ist eine
       Sprachkünstlerin sondergleichen, absolute Ausnahmeerscheinung in einem
       Kunstbetrieb, der es allen recht machen will.
       
       Ihr Ziel ist nicht Provokation – und doch darf man sich von der zweiten
       Festivaleinladung provoziert fühlen: „The Scarlet Letter“ spielt auf
       Nathaniel Hawthornes Roman an, der die Prüderie der Gesellschaft um 1850
       beklagt. Die Inszenierung ist nicht deshalb provokant, weil einer der zehn
       nackten Männer der Performerin demonstrativ einen Finger in die Vagina
       schiebt oder sie den Penis eines anderen genussvoll in den Mund nimmt.
       
       ## Loblied auf den Mann als solchen
       
       Sondern weil Liddell das Loblied auf den Mann als solchen singt, dem sie
       bis in alle Ewigkeit die Füße küssen möchte – während sie alle Frauen
       verbannen will. Jenseits der 40 würden Frauen zu überheblichen
       „Männerhasserinnen“, die sagen: „Was früher kein Verbrechen war, ist heute
       eins.“
       
       Damit erteilt Liddell der MeToo-Bewegung, es war nicht anders zu erwarten,
       eine vehemente Absage. Viele Zuschauerinnen lachen, wenn Liddell die
       Männerwelt preist – doch ob tatsächlich Ironie im Spiel ist, darf man
       bezweifeln. Später tanzt sie in einer kryptischen Szene mit Affengebärden
       um einen nackten schwarzen Mann und besingt seine „schwarze Seele“ – was
       immer das bedeuten soll.
       
       Letztlich fordert die Künstlerin in „Scarlet Letter“ einmal mehr
       unbedingtes Begehren, das sich keine Regeln auferlegen lässt. Fraglich nur,
       ob es derzeit wirklich einen Abend braucht, der Patriarchat und
       Heterosexualität als das einzig Wahre feiert.
       
       Doch auch wenn manches in diesen beiden Inszenierungen daneben ist
       (außerdem weniger opulent und spielfreudig als die unvergessliche
       Oktopus-Sause), zudem natürlich Wasser auf die Mühlen all jener Männer, die
       immer noch nicht verstehen, warum eine patriarchale Gesellschaft ein
       Problem sein könnte – Liddell ist und bleibt ein so furioses wie
       notwendiges Korrektiv für ein Theater, in dem sich die lauwarme
       Besserwisserkunst brav darauf zurückzieht, auf der moralisch und politisch
       richtigen Seite zu stehen.
       
       10 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Behrendt
       
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