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       # taz.de -- Autor über Autobahnraststätten: „Kein besonders populärer Ort“
       
       > Florian Werner über den speziellen Reiz der Raststätte und die Menschen,
       > die täglich am Rand der Autobahn sein müssen.
       
   IMG Bild: Schele Blicke beim Einchecken ins Motel: Florian Werner hat in Garbsen Nord recherchiert
       
       taz: Florian Werner, wann waren Sie zuletzt auf einer Autobahnraststätte? 
       
       Florian Werner: Oh, das müsste ich natürlich wie aus der Pistole geschossen
       sagen können. Aber weil ich eigentlich gar kein Auto habe, sondern
       überzeugter Bahnfahrer bin, habe ich schon länger an keiner mehr gehalten.
       Mal überlegen: Im Sommer, meistens für Interviews. Zum letzten Mal war ich
       wahrscheinlich auf der Raststätte Denkendorf bei Stuttgart.
       
       Das war dann die originelle Idee journalistischer Kolleg_innen? 
       
       Klar, immer wenn es ums Fernsehen ging, musste natürlich auf einer
       Raststätte gedreht werden. Vermutlich war ich seit Erscheinen des Buches
       häufiger dort als vorher.
       
       Mal abgesehen von Journalist_innen während Interviews: Wen trifft man auf
       solchen Raststätten – vor allem Menschen, die dort sein müssen? 
       
       Einerseits Menschen, die dort arbeiten: das Personal der Rastanlagen,
       Angehörige der Autobahnpolizei, und natürlich sehr viele Lkw-Fahrer, die
       dort ihre vorgeschriebene Haltezeit verbringen. Andererseits trifft man
       natürlich auch Reisende, die dort Halt machen, weil der Druck der Blase es
       eben erfordert. Oder die Leere des Tanks. Und die bleiben naturgemäß nur
       sehr kurz: Die durchschnittliche Verweildauer in Deutschland liegt, glaube
       ich, bei 12 bis 15 Minuten. Diese Durchmischung macht die Raststätte so
       einzigartig: Man trifft fast alle sozialen Schichte. Alle, die mit einem
       motorisierten Gefährt unterwegs sind, machen da irgendwann Halt, vom
       Studenten im Flix-Bus bis zu [1][Angela Merkel], die mit ihrem Dienstwagen
       unterwegs ist. Ein riesiger sozialer Querschnitt, der da vorbei fließt.
       Aber es gibt, wie gesagt, eben auch Menschen, die berufsbedingt immer da
       sind – und die haben mich besonders interessiert.
       
       Haben diese Menschen etwas gemeinsam? 
       
       Ich muss zugeben: Ich war überrascht, wie viele Leute dort ihren Beruf
       offenbar gerne und aus Überzeugung machen: vom LKW-Fahrer aus dem
       Bergischen Land, der mir erzählt hat, dass er sich am Ende der Sommerferien
       schon drauf gefreut hat, dass er endlich wieder ans Steuer darf. Bis zum
       Pächter, der auf der Raststätte aufgewachsen ist und dort auf dem Parkplatz
       Fahrrad fahren gelernt hat. Das ist die eine Gemeinsamkeit. Die zweite ist,
       dass gerade an einem so flüchtigen Ort eine Art dynastischer Gedanke
       weiterlebt: Der erwähnte LKW-Fahrer hat sich für seinen Job entschieden,
       weil sein Vater das auch schon gemacht und ihn früher immer mit dem
       40-Tonner mitgenommen hat. Und der Raststättenpächter macht das schon in
       dritter Generation. Ausgerechnet an der Autobahn gibt es also Kontinuitäten
       wie früher auf dem Erbhof oder der Mühle.
       
       Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie das Buch geschrieben haben? 
       
       Wie gesagt: Ich bin kein Automobilist – und trotzdem hat mich der Ort
       Autobahnraststätte fasziniert. Ursprünglich wollte ich ein Wanderbuch
       schreiben und dafür einmal die A 7 entlang wandern, von Flensburg bis nach
       Füssen, immer schön im Straßengraben, da sieht man sicher viel, dachte ich.
       Aber je länger ich darüber nachgedacht und die Karte studiert habe, desto
       klarer wurde mir: Das ist wirklich eine Schnapsidee, etliche freudlose
       Wochen mit Abgasen in der Nase. Also bin ich lieber gleich zur Rast
       übergegangen.
       
       Stattdessen: Abgase in Garbsen Nord? 
       
       Ich habe mich gefragt: Wie wäre es, wenn ich mich genau an der Stelle
       einquartiere, an der sich die A 7 und die A 2 kreuzen – also die große
       Nord-Süd- und die große Ost-West-Verbindung? Ich habe dann gemerkt, dass
       viele Sachen, die mich interessieren – Verkehrspolitik, aber auch das
       Tabuisierte, übel Beleumundete, Ekelbesetzte – sich an diesem Ort
       kondensieren. Die Raststätte ist ja kein besonders populärer Ort, aber
       genau solche Orte finde ich spannend: Weil sie starke Emotionen
       hervorrufen, weil sie Anlass zum Streiten und Nachdenken bieten, politisch,
       ökologisch, psychologisch und philosophisch. Als Nichtautofahrer auf einer
       Raststätte habe ich mich manchmal gefühlt wie ein Ethnograf in einer
       fremden Kultur. Weil es eben gar nicht mein natürliches Habitat ist.
       
       Haben Sie mit den Ethnografenschwierigkeiten zu kämpfen gehabt, also etwa,
       erst mal Vertrauen aufbauen zu müssen? 
       
       Ich wollte da nicht als klassischer Journalist auftreten. Ich hätte ja eine
       offizielle Anfrage stellen können und Interviewtermine vereinbaren. Aber
       ich bin erstmal anonym da hin gefahren, um den Ort auf mich wirken zu
       lassen und zu schauen: Was geben die Leute alles von sich preis? Das war
       natürlich total naiv: In dem Moment, als ich für mehrere Nächte im Motel
       auf der Raststätte eincheckte, wurde ich scheel angesehen – so was macht ja
       kein vernünftiger Mensch. Auf Raststätten übernachten ohnehin nur noch
       wenige Menschen, und schon gar nicht für mehrere Tage. Aber als das Eis
       irgendwann gebrochen war, waren alle sehr offen – nach ein paar Tagen
       Beschnuppern.
       
       Haben Sie eine Idee, welche Befürchtungen da vorgelegen haben? Die Sorge,
       in die Pfanne gehauen zu werden? 
       
       Es gibt einen großen Monopolisten, die Tank & Rast mit Sitz in Bonn, zu der
       etwa 95 Prozent aller deutschen Raststätten gehören. Die mögen, soweit ich
       weiß, keine Publicity. Brauchen sie auch nicht: Die Leute kommen sowieso,
       egal ob sie ein Buch über Raststätten gelesen haben oder nicht.
       
       Ziemlich zu Beginn bezeichnen Sie Autobahnratstsätte als „Knotenpunkt“, an
       dem sich „deutsche Zeitgeschichte verdichte“. Wie genau tut sie das? 
       
       Die Autobahnraststätte ist für mich eine Art deutscher Schicksalsort. Weil
       die Geschichte des 20. Jahrhunderts seit der NS-Herrschaft eben eng damit
       verwoben ist. Welchen Stellenwert die Nazis [2][dem Autobahnbau]
       beigemessen haben, ist ja bekannt: als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, als
       Demonstration vermeintlichen Fortschrittswillens und natürlich aus
       militärstrategischen Überlegungen heraus. Ich glaube, zwei Wochen nach der
       Machtübernahme erfolgte der erste Spatenstich für die Reichsautobahn. Und
       seitdem hat sich Deutschland, als bekennende Autofahrernation, immer auch
       an diesen Bauwerken entlang gehangelt, sich über sie definiert. Die
       Zeitgeschichte der letzten knapp 90 Jahre lässt sich anhand des
       Raststättenbaus plastisch nachvollziehen. Zunächst waren sie ideologisch
       überformt, sollten ein architektonisches Spiegelbild des jeweiligen Gaues
       sein. Im Krieg wurden sie dann teilweise zu Lazaretten umfunktioniert.
       
       Und nach dem Krieg? 
       
       Da war dann natürlich der Automobilwahn in vollem Gang. Ich glaube, es gibt
       kein Land mit einer vergleichbaren Dichte an Autobahnraststätten – alle 50
       Kilometer steht eine. Und die Raststätten der Nachkriegszeit strahlten
       einen enormen Zukunftsoptimismus aus, immer schön der Straße und dem
       Fortschritt zugewandt. In den 1970er-Jahren begann dann die Dekadenzphase.
       Ich glaube, wer damals auf westdeutschen Straßen unterwegs war, wird sich
       erinnern: Das waren teilweise ziemlich fiese Orte.
       
       Und heute? 
       
       Inzwischen sind die Raststätten fast komplett durchfilialisiert. Wie
       eigentlich ganz Deutschland.
       
       16 Oct 2021
       
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