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       # taz.de -- Volt-Kandidat über Zukunftspolitik: „Wir sind kein EU-Fanclub“
       
       > Wie können nicht nur Erasmus-Akademiker und Interrail-Abiturienten,
       > sondern auch Lehrlinge „europäisch denken“? Der Volt-Spitzenkandidat im
       > Interview.
       
   IMG Bild: „Wir werden alle gleichgemacht wie Plätzchen“: Volt-Politiker Paul Loeper
       
       Paul Loepers Gesicht war in Berlin auf Wahlplakaten wahrscheinlich genauso
       präsent wie das der Kanzlerkandidat:innen. Die 300 Volt-Mitglieder haben
       insgesamt 12.000 Plakate in der ganzen Stadt aufgehängt, erfahre ich
       später. Ich treffe Loeper in einem etwas zu teuren Café am Ku’damm, um über
       seine gesamteuropäische Vision für die Politik zu reden und darüber, dass
       das für ihn die einzig positive Vision für unsere Zukunft ist.
       Zwischendurch kommt eine rumänische Frau an unseren Tisch und bittet um
       Geld. Wir geben ihr beide nichts. 
       
       taz: Paul, Volt bezeichnet sich als paneuropäische Partei. Interessiert die
       EU überhaupt noch jemanden, im Bundestagswahlkampf sah das nicht so aus? 
       
       Paul Loeper: Um ehrlich zu sein, ist das genau der Grund, warum Volt
       gegründet wurde. Klimapolitik, Migrationspolitik und Selbstbestimmung für
       Daten müssen europäisch angegangen werden. Aber die EU funktioniert nicht
       richtig und zu wenig Leute setzen sich für eine Reform ein. Der Wettbewerb
       unter den Staaten kann aber schnell ein Nährboden für etwas sein, das nicht
       Friede und Zusammenarbeit ist. Das haben wir in unserer Geschichte häufig
       genug gesehen. Gerade unsere Generation droht das zu vergessen. Deswegen
       haben wir gesagt: Wir müssen die Wahl nutzen, um zu verdeutlichen, wie
       wichtig Europa auch bei uns vor Ort ist.
       
       Hat das geklappt, 0,4 Prozent sind ja nicht toll? 
       
       Natürlich sind wir mit unserem Ergebnis nicht zufrieden. Wir haben aber
       erreicht, der Reform der EU konsequent einen Platz im nationalen Wahlkampf
       zu geben. Viele Menschen haben von unseren Ideen erfahren.
       
       Was hat dich persönlich überzeugt zu sagen: Ja, die EU ist wichtig, wir
       müssen sie stärken? 
       
       Ein Teil meiner Familie kommt aus Schlesien. Geschichten von Krieg und
       Vertreibung waren immer präsent. In meinem ersten Geschichtsbuch habe ich
       Bilder von jungen Menschen gesehen, die fröhlich in Züge einsteigen und nie
       wiederkommen. Mein Vater sagte damals etwas, das mir in Erinnerung
       geblieben ist: Wenn wir als Menschen anfangen, andere Menschen als etwas
       anderes als menschlich zu bezeichnen, dann begeben wir uns auf einen Weg,
       der in die Katastrophe führt. Mit der Griechenlandkrise hieß es hier
       plötzlich, die faulen Griechen, und auf einmal waren es keine richtigen
       Menschen mehr. In der Migrationskrise ist das genauso. Dagegen will ich
       arbeiten.
       
       Das klingt, als seist du schon immer politisch gewesen? 
       
       Schon in der Grundschule habe ich gesehen, wie unterschiedlich Menschen
       sind. Bei uns gab es eine große deutsch-türkische Community, viele
       Russlanddeutsche und deutsche Mittelschicht. Trotzdem kann man, wenn man
       sich Mühe gibt, gut zusammenleben. Volt ist allerdings das erste Mal, dass
       ich parteipolitisch aktiv bin.
       
       Davor war nie der Wunsch da, in eine Partei einzutreten? 
       
       Mir hat immer eine positive Vision von der Zukunft gefehlt. Die Liberalen
       erklären nicht, wie die Welt funktioniert. Es gibt so viel Wettbewerb und
       so viel Schlechtes, das daraus entsteht. Gleichzeitig konnte mir die SPD
       auch nicht mehr richtig sagen, wofür sie steht. Was ist ihre Vision, wo wir
       in 20 Jahren sind? Bei den Grünen dachte ich immer, ich bin nicht so wie
       die, dass ich den Leuten immer genau sagen kann, was jetzt die richtige
       politische Sache ist. Ich finde dieses Fragende wichtig. Also habe ich mich
       immer nur themenmäßig engagiert, Nachhilfe gegeben oder mich in der
       Flüchtlingshilfe eingebracht. Dieses Allumfassende fand ich erst bei Volt.
       
       Was hat dich 2017 doch dazu bewegt, in die Politik zu gehen, Paul? 
       
       Für meinem Masterstudiengang habe ich digitale Propaganda und die AfD
       untersucht. Da sah ich einen Beitrag, in dem stand: „Diese
       Grünen-Politikerin, die müsstest du mit einem Fleischerhaken durch ihre
       Kehle am Drahtseil aufhängen.“ Ich war total geschockt, saß vor meinem
       Computer und dachte: Wie kann das sein, dass dagegen nicht gesprochen wird?
       Woher kommen dieser Hass und diese Angst? Da habe ich mir gesagt, ich will
       mich für eine positive Zukunft einsetzen. Aber das geht nur, wenn ich
       organisiert bin.
       
       Ist die Gesellschaft organisiert genug? 
       
       Uns wurde so lange erzählt, das Individuum, deine eigene Selbstentfaltung,
       sei das Einzige, was zählt. Jetzt merken wir langsam, dass man
       Verantwortung für andere trägt und Freiheit ohne Verantwortung für andere
       nicht geht. Allein ist man immer von dem abhängig, was größere
       Organisationen machen. Wir können nur organisiert mit anderen etwas
       verändern, doch das müssen wir lernen. Seit den 1990ern haben sich
       Parteienmitgliedschaften in Europa halbiert.
       
       Können denn überhaupt alle von der EU profitieren? 
       
       Ja, indem zum Beispiel Erasmus+ angeboten wird, mit dem viel mehr
       Auszubildende ins Ausland gehen können. Indem du für Interrailtickets
       sorgst oder dafür, dass Menschen wirklich auf dem ganzen Kontinent arbeiten
       können. Auch sollte die EU perspektivisch die Grundsicherung auszahlen und
       nicht die nationalen Staaten.
       
       Das klingt jetzt ziemlich nach dem Klischee, ihr wärt eine Partei von
       jungen Leuten, die alle Erasmus gemacht, also über EU-Förderprogramme im
       Ausland studiert haben, und einer Generation angehören, die ein zu
       positives Bild von der EU habe, weil sie super von ihr profitiert. 
       
       Es stimmt schon, dass bei uns viele Leute sind, die von der EU profitieren.
       Aber wir kritisieren die EU immer wieder. Wir sind kein Fanclub, sondern
       wollen sie verändern, gerade weil wir gesehen haben, wie schlecht sie
       funktioniert. Es sollen alle von der EU profitieren können.
       
       Wie würdest du die Volt-Leute beschreiben? 
       
       Am Anfang waren fast alle bei Volt die Leute, die, wenn du mit Freunden in
       den Urlaub fährst, mega helfen, diesen zu organisieren. Die schon ein
       bisschen Berufserfahrung hatten, noch nicht so lange mit der Uni fertig
       waren und super proaktiv sind. Anfangs hatten tatsächlich alle Leute bei
       uns gefühlt Erasmus gemacht. Aber mit jeder Wahl werden wir älter und
       diverser, haben inzwischen auch Kandidierende, die nicht studiert haben
       oder die über 70 sind.
       
       Sehen sich die Menschen in Europa außerhalb der Gruppe, die du gerade
       beschrieben hast, denn überhaupt als Europäer:innen? 
       
       Das Motto der EU lautet „In Vielfalt geeint“. Dieses Gefühl möchten wir
       vermitteln. Losgelöst davon ist es uns nicht wichtig, ob man sich
       europäisch fühlt. Die EU muss reformiert werden. Viele Herausforderungen
       unserer Zeit können ohne eine parlamentarische europäische Demokratie nicht
       gelöst werden.
       
       Wie würdest du einen Arbeiter, sagen wir aus Spandau, der gerade seine
       Ausbildung fertig hat, davon überzeugen, dass die EU voll das ist, was ihm
       weiterhilft? 
       
       Da kann man nicht einfach sagen: Die EU ist cool für dich! Sondern: Worüber
       machst du dir Sorgen? Die Klimaziele der EU beinhalten zum Beispiel, dass
       es massive Umschulungsprojekte gibt. Diese können einem Arbeiter in
       Spandau, der das Gefühl hat, dass er bei Siemens in Zukunft keinen Job mehr
       hat, weil er Turbinen baut, Hoffnung geben, weil er nun seine Skills als
       Nächstes im Windkraft-, Solaranlagen- und Wasserstoffturbinenbau einsetzen
       kann.
       
       Im Europaparlament seid ihr Teil der Grünen-Fraktion. In Ungarn arbeitet
       ihr mit den Liberalen zusammen. Wie positioniert sich Volt? Links, Mitte,
       Neoliberal? 
       
       Als Allererstes sind wir eine Stimme für die europäische Einigung. Dann
       sind wir eine Stimme für die Bewegungspartei. Das heißt, wir wollen Leuten
       ermöglichen, möglichst schnell wirksam mitzumachen. Darüber hinaus
       verstehen wir uns als Brückenbauer, die liberale, grüne und soziale
       Positionen vereinigen.
       
       Links und rechts sind veraltete Begriffe? 
       
       Ich finde, ja. Inzwischen geht es vielmehr um den Gegensatz von
       Zusammenarbeit und Weltoffenheit auf der einen Seite und Abschottung,
       Eigenverantwortung und bedingungsloser Wettbewerb auf der anderen. Die
       eigentlich wichtige Frage ist: Wie viel können wir zusammenarbeiten und wie
       Abschottung verhindern?
       
       Ist die links-grüne Bubble der jungen Leute zu dogmatisch? 
       
       Ich nehme das manchmal schon ein bisschen so wahr. Ich glaube, womit es
       vielleicht zusammenhängt, ist, dass wir als jüngere Menschen weniger
       Lebenserfahrung haben und weniger gesehen. Aber die Welt funktioniert nicht
       nur aufgrund einer Theorie. Eine Theorie ist immer nur ein Ausschnitt der
       Realität. Wir gendern, zum Beispiel. Hilft das immer mit Menschen ins
       Gespräch zu kommen? Nein, Gendern hilft nicht immer.
       
       Drei Themen, die junge Menschen politisch bewegen oder es sollten? 
       
       Klimawandel. Safe. Dann Bildungspolitik. Unser Bildungssystem ist aus dem
       letzten Jahrhundert. Wir werden alle gleichgemacht, wie Plätzchen, die am
       Ende aus der Backmaschine kommen. In dieser sich schnell wandelnden Zeit
       brauchen wir aber eine Schule, die uns beibringt, im Team zu arbeiten,
       kritisch zu denken und kreativ zu sein. Als Drittes ist es mir super
       wichtig, dass der Staat endlich aufhört, uns zu verwalten, und anfängt, uns
       zu beraten. Du hast immer Angst, etwas falsch zu machen und Zeit zu
       verlieren, wenn du ein Formular ausfüllst, sei es für dein Bafög,
       Arbeitslosengeld oder das Unternehmen, das du gründest. Das könnte auch mit
       ein paar Klicks funktionieren und einer Hotline, die du im Zweifelsfall
       anrufst.
       
       Um diese Themen anzugehen, orientiert ihr euch europaweit und pickt euch
       jeweils das Beste aus den einzelnen Ländern? 
       
       Genau, wir versuchen uns ein Beispiel zu nehmen für Lösungen, die schon
       funktionieren. Verwaltung wie in Estland, Wohnpolitik wie in Wien,
       Bildungspolitik wie in Finnland.
       
       Was bedeutet das Ergebnis der Bundestagswahl für deine Ziele? 
       
       Unsere Arbeit ist ein Marathon mit vielen kleinen Sprints. Als Nächstes
       sind die Europawahlen dran, die 2024 zeitgleich mit Kommunalwahlen in neun
       Bundesländern stattfinden. Was für einen besseren Zeitpunkt gibt es, unser
       Motto „Europäisch denken, lokal handeln“ in die Praxis umzusetzen?
       
       2 Oct 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ruth Fuentes
       
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