# taz.de -- Buch „Vier Übungen für Trost“: Wenn das Winseln und Fiepen aufhört
> Die Autorin Hanna Engelmeier sucht Trost. Dabei helfen Rainer Maria
> Rilke, David Foster Wallace, Clemens Brentano und Theodor W. Adorno.
IMG Bild: Was es heißt, ein Mensch zu sein: Detail aus der „Kreuzigung mit Heiligen“ von Fra Beato Angelico
Auf Ignatius von Loyola, den Gründer des Jesuitenordens, geht die Technik
spiritueller Übung zurück. Im Jesuitischen exercitium vollzieht sich über
der Lektüre heiliger Schriften (lectio divina), in Meditation und freier
Assoziation (ruminatio) und im Gebet die „Scheidung der Geister“:
Ausdifferenzierung all des Verschiedenen und Zufälligen, was einem im Kopf
herumgeht, nach göttlicher, menschlicher und teuflischer Herkunft.
Ziel dieses Unterscheidungsprozesses ist der Trost. Darunter versteht
Loyola einen „Zuwachs an Hoffnung, Glaube und Liebe und jene innere Freude,
die den Menschen zu den himmlischen Dingen und zum Wirken an seinem eigenen
Seelenheil hinruft und hinzieht, indem sie der Seele Ruhe und Friede in
ihrem Schöpfer und Herrn spendet“.
Hanna Engelmeiers Buch „Trost. Vier Übungen“ rekonstruiert den Gang des
jesuitischen Exerzitiums im Vollzug denkbar säkularer Lektüren,
Assoziationen und Meditationen – aber ohne den spirituellen Endzweck ihrer
Übungen zu verleugnen. Sie findet Trost nicht in der Schau Gottes oder der
Nachfolge Christi, sondern im „Zusammenfall von Schreiben, Hören, Beten,
Lesen in einem Text“. Der sei, bekennt Engelmeiers letzter Satz, „meiner
gewesen, solange ich ihn geschrieben habe“. Jetzt gehört er, wenn wir
wollen, uns.
Ihr Buch nähert sich säkularer Erleuchtung im Ruminatio-Nachvollzug
quasikanonischer Lektüren. Vier stehen als Ausgangspunkt im Zentrum ihrer
vier Kapitel oder Exerzitien:
## Rilke, Wallace, Brentano und Adorno
Rainer Maria Rilkes „Briefe an einen jungen Dichter“, [1][David Foster
Wallaces] commencement speech „This Is Water“, die der legendäre
Dichter-Nerd 2005 vor den Absolventen des Kenyon College in Ohio gehalten
hat, Clemens Brentanos unbestimmt gebetsförmiges Gedicht „Eingang“, das die
Erzählerin auswendig gelernt hat und bei einem Besuch am Grab ihrer Tante
Hety sich innerlich vorsagt, und [2][Theodor W. Adornos] Vortrag „Kultur
und Culture“, in dem der große Gelehrte den Unterschied zwischen
amerikanischem Glücksversprechen und deutscher Übellaunigkeit
exemplifiziert an der „Art, in der jedes amerikanische Kind eigentlich
ununterbrochen einen sogenannten ice-cone, einen Kegel mit Eiscreme essen“
und damit „in jedem Augenblick eine Art Erfüllung des Kinderglücks finden
kann, nach dem unsere Kinder einst vergebens sich die Hälse ausrenkten –
das ist wirklich ein Stück der erfüllten Utopie.“
Die Lektüre- und Gedankenreisen, auf die Hanna Engelmeier die Leserin auf
den verschlungenen Wegen und Umwegen ihrer ruminationes von diesen Texten
aus mitnimmt, gehören zum Bemerkenswertesten und Überraschendsten, was man
in den letzten Jahren auf Deutsch zu lesen bekommen konnte. Man erfährt
über die Meditationen des Schicksals der Heiligen Johanna, in die sich die
nichtbinäre Person Eileen Myles in ihrem Roman „Chelsea Girls“ vertieft,
über das Verhältnis von Katholizismus und Hexenglaube, über die New
Critics, die Devotio Moderna, über den Lebenslauf eines katholischen
Mädchens aus einer Arbeiterfamilie in den fünfziger Jahren, über das Grab
der Sängerin Nico im Grunewald und über Theodor W. Adorno im Frankfurter
Café Laumer.
## Schreiben, Hören, Beten, Lesen
Aber nirgends in ihrem Textlabyrinth verliert Hanna Engelmeier das
eigentliche Ziel aus den Augen: Es ist die Möglichkeit, der alltäglichen
Trostlosigkeit durch eine seelische Anstrengung zu entkommen, die
„Schreiben, Hören, Beten, Lesen“ an einen eigenen Lebenstext zurückbindet.
Bemerkenswert sind diese vier Übungen somit vor allem darin, dass sie
hochdifferenzierte Intellektualität und umfassende Belesenheit in den
Dienst elementarer menschlicher Bedürfnisse stellt. Diese Demutsübung ist
die Scheidung der Geister, auf die es Engelmeier ankommt.
Sie hat bei David Foster Wallace gelernt, der sich darüber klar war, dass
Literatur sich damit beschäftigen muss, „what it is to be a fucking human
being“. Oder überhaupt eine Kreatur: Die Schlussbetrachtung ihrer Übungen
ist einem Hund gewidmet, einem untröstlichen Dackel, der „vor einem
Spätkauf Ecke Bürkner- und Reuterstraße“ vor Einsamkeit in einen
Fassungslosigkeitszustand geraten ist, weil seine Bezugsperson verschwunden
zu sein scheint.
Kein Text und keine Reflexion, sondern ein Tier schenkt Engelmeier das lang
gesuchte „starke Bild“ dafür, „worum es bei Trost ganz eigentlich geht: den
Moment, in dem das Winseln und Fiepen und Heulen aufhört“.
## Der Trost des Dackels
Im Dackeldenkbild ist das Geheimnis des Erwachsenseins aufbewahrt, jenes
Zustands, in dem man sich selber trösten kann. Das Ziel aller
intellektuellen Übung, versteht Engelmeier am Schluss ihres Buchs, bedeutet
„zu wissen, dass man sich weder in den Dackel verwandeln kann, dem nach
Rückkehr seines Menschen schon wieder alles egal ist, noch dass die Dinge,
die die kindliche Version der eigenen Person wirklich trösteten, denselben
Trost wie damals spenden können. Das bedeutet nicht, dass Erwachsene
untröstlich sind. Aber ihr Trost ist ein anderer, er hat sich vom Reflex
zur Reflexion verschoben.“
Am Ende des Komplizierten, das ist die Summe von Engelmeiers Buch, steht
etwas Einfaches, das schwer zu erreichen ist.
22 Oct 2021
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## AUTOREN
DIR Stephan Wackwitz
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