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       # taz.de -- Rechtsstreit zwischen EU und Polen: Wer das letzte Wort hat
       
       > Ob EU-Recht oder nationales Recht vorgeht, wird nicht nur in Polen
       > kritisch hinterfragt. Die wichtigsten juristischen Fragen und Antworten.
       
   IMG Bild: Andreas Voßkuhle nach der Urteilsverkündung im Mai 2020 gegen die EZB und den EuGH
       
       Hat EU-Recht immer Vorrang vor dem nationalen Recht der EU-Mitgliedstaaten? 
       
       Das ist seit Jahrzehnten umstritten. Die EU-Kommission und der Europäische
       Gerichtshof (EuGH) gehen von einem absoluten Vorrang des EU-Rechts aus.
       Viele nationale Verfassungsgerichte lehnen jedoch einen unbedingten Vorrang
       des EU-Rechts ab. Dazu gehört nicht nur das polnische Verfassungsgericht,
       sondern auch das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG), an dem sich
       wiederum viele andere Gerichte in den EU-Staaten orientieren.
       
       Was sagen die EU-Verträge? 
       
       Dort ist der Vorrang des EU-Rechts bis heute nicht geregelt. Die Annahme,
       dass EU-Recht immer gegenüber nationalem Recht vorgeht, beruht
       ausschließlich auf Urteilen des EuGH, der dies seit 1964 vertritt.
       
       Wie argumentiert der EuGH? 
       
       Er erklärt, dass eine Rechtsgemeinschaft wie die EU (und damals die EG) nur
       funktionieren kann, wenn das gemeinschaftliche Recht dem nationalen Recht
       vorgeht. Der Vorrang muss deshalb auch gegenüber nationalem
       Verfassungsrecht gelten.
       
       Wie argumentiert das BVerfG? 
       
       Das EU-Recht gehe nur in den Bereichen vor, in denen die EU-Staaten der EU
       eine Kompetenz eingeräumt haben. Das BVerfG reklamiert für sich die Macht,
       zu entscheiden, ob im konkreten Fall der Vorrang des EU-Rechts gilt oder ob
       ein EU-Akt in Deutschland unwirksam ist.
       
       Was prüft das BVerfG genau? 
       
       Das BVerfG prüft erstens, ob die EU-Organe jenseits ihrer Kompetenzen
       („ultra vires“) gehandelt haben. Und zweitens prüft es, ob ein EU-Rechtsakt
       die Identität des Grundgesetzes verletzt. Zur Identität des Grundgesetzes
       gehören etwa die Demokratie, der Rechtsstaat, die Menschenwürde und die
       deutsche Staatlichkeit.
       
       Ist die Rechtsprechung des BVerfG gefährlich für die EU? 
       
       Potenziell ja, weil Karlsruhe davon ausgeht, dass nationale
       Verfassungsgerichte in Kompetenzkonflikten das letzte Wort haben – und
       nicht der EuGH. Allerdings hat das BVerfG 2010 im Honeywell-Beschluss
       versprochen, seine „Reservekompetenz“ nur in Ausnahmefällen einzusetzen,
       und zwar nur, wenn eine Kompetenzüberschreitung der EU-Organe
       „offensichtlich“ ist und zu einer „strukturell bedeutsamen Verschiebung“
       der Kompetenzen von Deutschland zur EU führen würde.
       
       Wie oft hat das BVerfG bereits EU-Recht für unwirksam erklärt? 
       
       Nur einmal, im Mai 2020 im Streit um das Anleihenankaufprogramm der
       Europäischen Zentralbank (EZB). Damals hat das BVerfG sowohl das Handeln
       der EZB als auch ein Urteil des EuGH für kompetenzwidrig („ultra vires“)
       erklärt. Allerdings hat sich das BVerfG dabei wohl nicht an seine eigenen
       Vorgaben gehalten, weil die Kompetenzverletzung der EU-Organe nach Ansicht
       vieler Jurist:innen weder offensichtlich war noch zu einer strukturell
       bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge führte.
       
       Wie viele Gerichte in anderen EU-Staaten haben ebenfalls Vorbehalte gegen
       den generellen Vorrang des EU-Rechts? 
       
       In einer BVerfG-Auflistung vom Juni 2021 werden die Verfassungs- oder
       Höchstgerichte von Belgien, Dänemark, Estland, Frankreich, Irland, Italien,
       Kroatien, Lettland, Polen, Spanien und Tschechien genannt.
       
       Ist das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober also gar
       nicht so außergewöhnlich? 
       
       Doch. Das polnische Verfassungsgericht geht viel weiter als andere
       Verfassungsgerichte. Es erklärte mehrere Bestimmungen der EU-Verträge schon
       deshalb für verfassungswidrig, weil sie EU-Recht einen Vorrang gegenüber
       der polnischen Verfassung geben. Dieser Vorbehalt stellt die
       EU-Rechtsordnung also nicht punktuell, sondern sehr weitgehend infrage.
       
       Hat die EU die Kompetenz zur Kontrolle, ob nationale Gerichte unabhängig
       sind? 
       
       Das ist ebenfalls umstritten. Der EuGH hat sich diese Kompetenz 2018 in
       einer strategischen Entscheidung (zur Justiz in Portugal) selbst
       zugebilligt, obwohl sie sich nicht explizit aus den EU-Verträgen ergibt.
       Polen lehnt diese Rechtsprechung des EuGH ab. Überwiegend wird die
       EuGH-Rechtsfortbildung jedoch in der Rechtswissenschaft (angesicht der
       Probleme Polens und Ungarns mit der Rechtsstaatlichkeit) bejaht.
       
       20 Oct 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Rath
       
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