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       # taz.de -- Premiere im Theater an der Parkaue: Die Kälte der Gekränkten
       
       > Alexander Riemenschneider inszeniert am Theater an der Parkaue „Krummer
       > Hund“, ein Stück über Gewalt und Demütigungen unter Jugendlichen.
       
   IMG Bild: Eisige Buchstaben: Szene aus „Krummer Hund“
       
       Ein Hauch von Berlinale liegt über Berlin Lichtenberg. Ein Steg ist vor der
       neuen provisorischen Bühne [1][des Theaters an der Parkaue] aufgebaut. Sekt
       wird ausgeschenkt unter dem Licht der LED-Scheinwerfer, die das Laub der
       umstehenden Bäume bunt färben. Alexander Riemenschneider, neuer
       Co-Intendant des Hauses und zugleich Regisseur der Eröffnungsinszenierung,
       ruft unter dem Applaus des Premierenpublikums die Namen aller Beteiligten
       an dieser Produktion auf, von der Autorin des Textes über den Beleuchter
       bis zur Ankleiderin.
       
       Diese Würdigung aller Beteiligten deutet auf den neuen Wind in Berlins
       größtem Staatstheater für junge Menschen hin und auch auf das Verständnis
       der neuen Leitung aus Riemenschneider und Mit-Intendantin Christina Schulz.
       Als „intersektional und diversitätssensibel“ charakterisiert Schulz den
       gemeinsamen Ansatz. Dazu gehört nicht nur ein internationales Ensemble,
       sondern auch, dass die, die sonst nicht im Rampenlicht stehen, ebenfalls
       der Aufmerksamkeit wert gehalten werden.
       
       Das Eröffnungsstück „Krummer Hund“, eine Bühnenfassung des gleichnamigen
       [2][Romans von Juliane Pickel,] handelt von einer davon sehr verschiedenen
       Welt. Zwei einsame, und in ihrer Einsamkeit schwer gekränkte Seelen stehen
       im Mittelpunkt. Daniel, vom Weggang seines Vaters und den regelmäßig
       wechselnden Liebhabern seiner Mutter schwer genervt, kultiviert seinen Zorn
       auf die Welt in der Hingabe an Gewaltexzesse. Mitschülerin Alina lässt ihre
       Mischung aus Überlegenheitsgefühl und eigener Verletztheit vor allem durch
       verbale Demütigungen ihres Umfelds aus.
       
       Die Kälte, die ihre gekränkten Gemüter durchweht, macht Bühnenbildnerin
       Johanna Pfau in vier riesigen Buchstaben aus Eis sichtbar. Sie formen den
       Namen „OZZY“; so heißt der Hund, den der Vater Daniel vor seinem Weggang
       schenkte, benannt nach Ozzy Osbourne, dem durch Unangepasstheit
       aufgefallenen Leadsänger der Heavy Metal Combo Black Sabbath.
       
       ## Jeder und jede wird mal Daniel
       
       Hund Ozzy kommt im Stück ums Leben, eingeschläfert ausgerechnet durch den
       neuen Partner der Mutter, einen Tierarzt. Das ist der nächste Verlust in
       Daniels Leben, der die Gewaltdynamik weiter treibt.
       
       Das sechsköpfige Ensemble erzählt Daniels Gemütslage und die daraus
       erwachsenen Ereignisse in Kanon-artiger Abfolge. Jeder und jede wird mal
       Daniel, prägt mit eigener Haltung, Gestik und Mimik diese Figur. Das ist
       ein schöner Kunstgriff, der seinerseits Diversität herstellt und zugleich
       den Erzählstrom des Romans rhythmisiert. Allerdings verlässt sich
       Riemenschneider zu sehr auf dieses eine Mittel.
       
       Der Textstrom wird in einer stets gleich wirkenden, hohen Intensitätsstufe
       aufgesagt, es sind, bis auf den Wechsel der Stimmen, kaum Brüche oder
       Modulationen spürbar. Die Spieler*innen stehen, sitzen und liegen meist
       im Raum verteilt herum. Gelegentlich rennen sie, wechseln dabei die
       Positionen. Ausbrüche aus diesem szenischen Einerlei gibt es nur, wenn in
       den Gewaltorgien Eisplatten der Buchstaben zertreten und zerstückelt
       werden. Das ist die zweite gute Idee des Abends; ein paar Einfälle dieser
       Güte mehr hätten dem Eröffnungsstück der neuen Intendanz aber gut getan.
       
       Immerhin ist das Thema gut gewählt. Roman und Inszenierung spüren den
       Verlorenheitsmomenten der jungen Protagonisten sensibel nach. Und die
       künstlerische Leitung musste ja nicht nur für die Neuinszenierung sorgen,
       sondern in weniger als einem Jahr Vorbereitungszeit auch ein zutiefst
       verunsichertes Haus zu neuen Zielen führen und zusätzlich den noch
       mindestens dreijährigen Umbauprozess des Bühnenturms organisatorisch
       auffangen.
       
       2019 musste der [3][damalige Intendant Kay Wuschek wegen
       Rassismusvorwürfen] das Haus verlassen. Danach gab es Interimslösungen,
       bevor im September letzten Jahres der zuvor unter anderem am DT tätige
       Regisseur Riemenschneider und Schulz, langjährige Leiterin der
       Jugendwettbewerbe der Berliner Festspiele – u.a. Theatertreffen der Jugend
       und Tanztreffen der Jugend – in einem langwierigen Auswahlverfahren als
       Sieger hervorgingen. Riemenschneider und Schulz wollen nun einerseits auf
       die Kompetenzen der oft langjährigen Mitarbeiterschaft setzen, andererseits
       künstlerisch für neue Impulse sorgen und dabei auch auf Kollaborationen mit
       den freien darstellenden Künsten setzen.
       
       Wie sehr die Corona-bedingten Einschränkungen ihrem jugendlichen Publikum
       zugesetzt haben, wissen sie noch nicht. Die erste Schulvorstellung des
       neuen Stücks gibt es am Dienstag. Festgestellt haben sie immerhin, dass
       Lehrerinnen und Lehrer Feuer und Flamme sind, dass es endlich mit den
       außerschulischen Theatererlebnissen weiter geht.
       
       24 Oct 2021
       
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       ## AUTOREN
       
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