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       # taz.de -- Österreichs Ex-Kanzler Kurz: Noch nackter als ohne Kleider
       
       > Die österreichische Politik ist in ihrer theatralischen Dimension nicht
       > zu überbieten. Nicht mal das Genre der Operette kann mithalten.
       
   IMG Bild: Ex-Kanzler Sebastian Kurz
       
       In Österreich ist Politik die theatralische Form schlechthin. Das will
       etwas heißen in einem Land mit solch vehementer Theatertradition.
       [1][Hausdurchsuchungen in der Parteizentrale der ÖVP] und
       Hausdurchsuchungen im Bundeskanzleramt in Wien; [2][Veröffentlichung von
       Chatprotokollen] der handelnden Politakteure, offenbaren ein Maß an
       Verderbtheit, Intrigen und Korruption, das jede Soap-Opera in den Schatten
       stellt.
       
       Kein Wunder, dass Politik das eigentliche Bühnengeschehen dazu verurteilt,
       Kopie zu bleiben. Denn es ist nur damit beschäftigt, das aberwitzige
       Theater auf der politischen Bühne zu verarbeiten. So schreibt etwa der
       Herausgeber der Wiener Stadtzeitung Falter, Armin Thurnher, [3][in seinem
       Blog eine täglich fortlaufende „Staatsoperette“] – das Genre der Operette
       scheint die einzig adäquate Form für die aktuellen Ereignisse. Dem sich
       überschlagenden Tohuwabohu kommt der Journalist trotzdem kaum nach.
       
       Auch dem Burgtheater ist die Politik Inspiration für eine
       Lecture-Performance, die allerdings der Wirklichkeit hinterherhinkt. Fünf
       Schauspieler und eine Erzählerin an einem langen Tisch verlesen Chats, die
       Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz und seine Adlati ausgetauscht haben.
       Inhaltlich bringt die Lesung nichts Neues. Alle Einzelheiten kursieren
       längst in den Medien. Am Staatstheater bekommen sie nur eine Art höhere
       Weihe.
       
       Insgesamt aber zeigt sich: Politik ist in ihrer theatralischen Dimension
       nicht zu überbieten. Gerade wenn alles auffliegt, wird ihre Inszenierung
       sichtbar. Die Inszenierung liefert die symbolische Fassade der Politik.
       Fällt diese, verkehrt sich das, was bisher als Ausweis von Kurz’ Befähigung
       zum Kanzler galt, ins Gegenteil: gnadenloser Machtwille, Ungerührtheit,
       Gewandtheit.
       
       ## Wandelndes Moraldefizit
       
       Plötzlich erscheint der, der gerade noch als Talent galt, nur mehr als
       wandelndes moralisches Defizit. Ganz ohne Fassade ist der Politiker Kurz
       nicht mehr doppelt. Früher ahnte man die Intrige – und sah die Rohheit mit
       der feinen Klinge. Nun sieht man bei jedem Auftreten die nackte Machtgier –
       ohne gewandtes Antlitz. Nun schwingt, wenn er spricht, stets der freche
       Tonfall aus den Chats mit. Das wird hängen bleiben und klingt nach wie ein
       böses Echo. Sein eigenes Ich jenseits der Fassade fällt nun wie ein
       Schatten auf den Politiker. Und das machte Kurz untragbar. Noch vor jeder
       strafrechtlichen Klärung.
       
       Es braucht immer kollektive Illusion, die einem Politiker die Gründe
       nachreichen, warum er regiert. Denn de facto gibt es keinen wirklichen
       Grund, warum einer regiert. Nur den Umstand der Wahl. Und wenn der
       Koalitionspartner, also die Grünen, eine „untadelige“ Person verlangt
       haben, dann heißt untadelig im Politischen eigentlich: eine Person, deren
       Fassade intakt ist. Eine Person, an die ein kollektiver Glaube möglich ist.
       
       Bei Kurz ist dies nicht mehr möglich. Man kann nicht einmal mehr wider
       besseres Wissen daran glauben. Denn die notwendige symbolische Fassade
       bröckelt. Und eine solch ramponierter Ruf hält keine Unschuldsvermutung
       aufrecht. Auch wenn man dies hierzulande gebetsmühlenartig wiederholt. Ist
       aber die Fassade weg – was bleibt dann?
       
       Ein Staatsmann ohne diese ist nackter, als wenn er unbekleidet wäre.
       Nackter als nackt. Die Chats zeigen Kurz in dieser symbolischen Nacktheit –
       das heißt in der Alltäglichkeit des Tonfalls, in der Banalität der
       Erhitzung, in der Gewöhnlichkeit der Intrige. Diese öffentliche Figur wird
       sich nur schwer rekonstruieren lassen.
       
       Kurz aber beruft sich nun, da er seiner Aura entkleidet ist, auf seine
       Menschlichkeit. Das ist keine gute Idee. Man kann sich nicht erst als
       Heiland inszenieren – und dann darauf pochen, dass man auch nur ein Mensch
       ist. Dass man „zu Hause auch nicht im Anzug“ herumläuft. Sich auf
       Menschlichkeit zu berufen ist die falsche Strategie. Die Beschwörung der
       Kurz’schen Hauspatschen bestätigt nur seine symbolische Nacktheit.
       
       25 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Razzia-bei-Oesterreichs-Konservativen/!5806835
   DIR [2] /Skandal-um-Sebastian-Kurz/!5804022
   DIR [3] https://cms.falter.at/blogs/athurnher/2021/10/23/staatsoperette-aus-den-letzten-tagen-des-sebastian-kurz-ii/
       
       ## AUTOREN
       
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