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       # taz.de -- Corona in Russland: Lieber tot als Sputnik V
       
       > Infektions- und Sterbezahlen explodieren. Täglich sind über 1.000 Tote zu
       > beklagen. Viele sind ungeimpft, weil sie heimischen Vakzinen nicht
       > trauen.
       
   IMG Bild: Täglich mehr als 1.000 Tote: Sarg für ein Opfer der Pandemie in Nischni Nowgorod
       
       Moskau taz | Ein- und Ausgänge des riesigen Einkaufszentrums am Rande der
       Moskauer Innenstadt sind von städtischen Sicherheitsbeamten besetzt – seit
       mehr als zwei Wochen schon. Sie sollen Besucher dazu mahnen, Hygieneregeln
       einzuhalten, will heißen, einen Mund- und Nasenschutz zu tragen. Die Wege
       ins Einkaufszentrum wurden überdies eingezäunt, damit der Zustrom
       überschaubar bleibt und nicht vom Weg abkommt.
       
       Oksana trägt eine schwarze Maske, sie wahrt auch die anderthalb Meter
       Abstand. Die Vierzigjährige gesteht, dass sie sich noch nicht habe impfen
       lassen. „Wer sich vorsichtig verhält, schützt sich gegen Corona“, sagt sie.
       Sie [1][könnte sich auch im Zentrum impfen lassen], dreißig neue
       Anlaufstellen wurden in Russlands Hauptstadt in den letzten Tagen neu
       eröffnet. Oksana stammt aus einer Arztfamilie und hat Dutzende Geschichten
       parat, warum auch das Impfen keine Garantie gegen Ansteckung bietet.
       „Überhaupt sei der Stoff – Sputnik V – noch nicht richtig erprobt“, meint
       sie leise.
       
       Kremlchef Wladimir Putin versteht diese Einstellung nicht. Selbst in seinem
       Bekanntenkreis gebe es Leute, die sich nicht hätten impfen lassen.
       Merkwürdig, sagte er diese Woche in einer Videobotschaft, „Leute mit
       wissenschaftlichen Qualifikationen und guter Bildung“. Das Misstrauen
       gegenüber den eigenen Impfstoffen ist groß. Mittlerweile verfügt Moskau
       über fünf davon – darunter seit August 2020 den Erstling Sputnik V.
       Ausländische Vakzine sind nicht zugelassen. Bislang hat sich erst ein
       Drittel der Bevölkerung impfen lassen.
       
       Wladimir Putin trägt an den Vorbehalten Mitschuld. Er ließ sich erst im
       März impfen und tat dies im Verborgenen. Hat er es wirklich getan, fragten
       viele daraufhin. Zweifel halten bis heute an.
       
       ## Pandemie hat das Land fest im Griff
       
       Corona hat Russland inzwischen fest im Griff. Die russische Regierung geht
       bislang von mehr als 226.000 Toten aus, die Statistikbehörde kommt für den
       Zeitraum von Januar 2020 bis August 2021 auf mehr als 400.000 Covidtote.
       Der unabhängige Statistiker Aleksei Rakscha schätzt, dass die
       Übersterblichkeit bald die 800.000-Marke erreichen könnte. Am Freitag wurde
       zum sechsten Mal hintereinander eine Sterberate von mehr als 1.000 Toten
       und 34.000 Neuinfizierten täglich gemeldet. 96 Prozent der Coronabetten in
       Krankenhäusern sind zudem belegt.
       
       Vom 28. Oktober bis zum 7. November rief Putin für das ganze Land
       arbeitsfreie Tage aus. Den Regionen steht jedoch frei, die Regelungen
       eigenen Erfordernissen anzupassen. Ohnehin feiert Russland den 4. November
       als arbeitsfreien Tag der „Volkseinheit“. Viele Urlauber wollen die Zeit
       nutzen, um im Süden auszuspannen. Flugbuchungen sind sprunghaft
       angestiegen. Schon im Vorjahr führte das zu einem Infektionsanstieg.
       Moskaus Bürgermeister rät daher zu einem verlängerten Aufenthalt auf der
       Datscha.
       
       In Moskau sind ab 28. Oktober Einkaufszentren, Kinos und Fitnessclubs
       geschlossen. Apotheken und Supermärkte bleiben offen. Museen und Theater
       können zwar weiterarbeiten, jedoch mit reduzierter Zuschauerzahl. Auch
       Schulen und Kindergärten unterliegen dem Lockdown.
       
       ## Entspanntes Verhältnis zum Tod
       
       Trotz allem ist Corona kein zentrales Thema in Russland. Die Menschen
       machen eher den Eindruck, als begegneten sie dem Virus fatalistisch. „Wenn
       Du angesteckt wirst, sollte es vielleicht so sein“, sagt Oksana
       achselzuckend. Vermutlich würden auch Masken bald wieder nur als lässiger
       Kinnschutz getragen, lacht sie.
       
       Grundsätzlich hat die russische Gesellschaft ein entspannteres Verhältnis
       zum Tod. Viele stürben ja auch im Verkehr oder an Alkoholmissbrauch, gibt
       der Soziologe Lew Gudkow vom Lewada-Zentrum zu bedenken. Auch wenn viele
       zum Impfen bereit seien, „sie beeilen sich nicht“.
       
       Das lockere Verhältnis zum Tod sei auch eine soziale Frage. Gerade Ärmere
       gäben sich gegenüber Krankheit und Tod eher gleichgültig, meint der
       Soziologe. Nachdenklich stimmt auch das Misstrauen vieler junger und gut
       ausgebildeter Frauen, die auf ihre Gesundheit achten, gegenüber der
       Obrigkeit: Sie lehnen die Impfung ab.
       
       23 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Corona-Inzidenz-in-Osteuropa-steigt/!5807222
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus-Helge Donath
       
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