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       # taz.de -- Über mangelnde Konfliktkompetenz: Wittgensteins Schuppen
       
       > Wer schlechte Stimmungen nicht aushält, muss Konflikte delegieren. Doch
       > ist das nun feige oder klug?
       
   IMG Bild: Auch auf dem Recyclinghof kann man dem Ethikrat begegnen
       
       Kürzlich ging ich zum Recyclinghof, um dort Kompost zu kaufen. Es ist eine
       der erstaunlichen Eigenschaften des Recyclinghofs, dass er Kompost
       hervorbringt, zumindest auf den ersten Blick, aber noch erstaunlicher ist
       die Freundlichkeit der Menschen, die dort arbeiten. Vielleicht ist es die
       Befreiung von Ballast, die die Leute hier so umgänglich macht, dachte ich,
       oder die Erfahrung, dass sich aus nahezu allem noch etwas Sinnvolles machen
       lässt.
       
       Auf dem Weg zur Kompostverkaufsstelle begegnete ich dem Ethikrat, der einen
       leeren Leiterwagen hinter sich herzog. Der Ethikrat, das sind drei ältere
       Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen in Fragen
       praktischer Ethik geben. „Guten Tag“, sagte ich, „sind Sie auch auf der
       Suche nach Kompost?“ „Nein“, sagte der Älteste von ihnen, der zugleich
       Vorsitzender ist, „wir suchen nach günstigen Baumaterialien.“
       
       „Sie bauen“, sagte ich überrascht, denn der Rat war in der Vergangenheit
       nicht durch praktische Tätigkeiten aufgefallen. „Wir planen den Nachbau
       philosophisch bedeutsamer Orte“, sagte der Vorsitzende. „Als Einstieg
       dachten wir an den [1][wittgensteinschen Schuppen].“ Die beiden anderen
       Ratsmitglieder stellten eine Trittleiter auf und stiegen mühsam in einen
       Container mit Altholz. „Aber nun zu Ihnen“, sagte der Vorsitzende. „Haben
       Sie eine Frage an uns?“
       
       Ich betrachtete eine halbe Leiter, die aus einem der Container ragte und
       dachte an den Eklat, den unsere neu installierte Katzentreppe provoziert
       hatte. „Wir hatten sie probeweise aufgehängt, als eine Nachbarin kam und
       schrie, dass wir sie wegen Brandgefahr abnehmen müssten“, sagte ich. „Ich
       habe meinen Freund geholt, damit er mit ihr spricht. Als es dann wieder
       klingelte, habe ich schon gar nicht mehr selbst die Tür geöffnet, sondern
       aus dem Nebenzimmer zugehört, wie sich die anderen Nachbarn beschwerten.“
       
       „Nun“, sagte der Ratsvorsitzende, „welche Frage leiten Sie daraus ab?“ „Die
       Frage, ob das Delegieren von Konfliktaustragung feige oder im Gegenteil
       klug ist“, sagte ich. „Zumindest, wenn klar ist, dass man selbst zu einer
       emotional gefärbten Reaktion neigt.“
       
       Aus dem Inneren des Containers schob sich ein altes Waschbrett. „Die
       Geschichte kennt Wittgenstein als Mann, der mit den Händen arbeitete“,
       sagte der Ratsvorsitzende erfreut und schleppte das Brett zum Leiterwagen,
       wo bereits etwas Rohrähnliches lag. „Wussten Sie, dass Wittgenstein eine
       Türklinke entworfen hat“, sagte er zu mir und näherte sich dem Container
       für Altmetall.
       
       „Nein, das wusste ich nicht“, sagte ich. „Aber mehr noch interessiert mich,
       ob dieses Nichtaushaltenkönnen von Antipathie eine spezifisch weibliche
       Hypothek ist, an der man arbeiten muss.“ Tatsächlich hatte ich mich nach
       dem Geschrei bei der Volkshochschule zu einem Kurs zur Konfliktbewältigung
       angemeldet, der aber ausgefallen war. Seitdem versuchte ich die Wohnung nur
       dann zu verlassen, wenn niemand im Treppenhaus war.
       
       „Ist ein spezifisch weibliches Harmoniebedürfnis nicht eine überkommene
       Zuschreibung“, murmelte der Ratsvorsitzende, während er einen
       Recyclinghofmitarbeiter beobachtete, der den rohrartigen Gegenstand vom
       Leiterwagen hob. „Haben Sie unsere Türklinke abgeschraubt?“, fragte der
       Mann. „Uns ist aufgefallen, dass sie starke Ähnlichkeit mit dem
       wittgensteinschen Modell hat“, sagte der Ratsvorsitzende vorsichtig. Der
       Recyclingmann strich nachdenklich über das Rohr. „Da gebe ich Ihnen recht“,
       sagte er, „brauchen Sie mehr?“ „Sicher haben sie auch [2][foucaultsche
       Fenstergriffe]“, rief ich ihnen hinterher, aber ich rief es leise, denn
       noch immer fehlte es mir an Konfliktkompetenz.
       
       24 Oct 2021
       
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