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       # taz.de -- Wissenschaftliche Politikberatung: Lehren aus der Coronapandemie
       
       > Wissenschaftliche Daten sind für die Bewältigung von Krisen unerlässlich.
       > Die Pandemie zeigt, dass die Beratung von Politikern verbessert werden
       > muss.
       
   IMG Bild: Überflutete Bundesstraße: Forscher warnten schon früh vor den Folgen einer Klimaveränderung
       
       Berlin taz | Zurück in die Zukunft: Zwei Energieforscher setzen sich in
       eine Zeitmaschine. Sie plagt die Frage: „Wie sind wir mit dem Klimawandel
       in so ein Schlamassel geraten? Wann und wie ist alles schiefgelaufen – und
       hätten wir es anders machen können?“ Sie reisen in die Vergangenheit, um
       die Geschichte zu ändern und Fehler der Energiepolitik zu beheben. Und sie
       springen ins Morgen, um Zukunftswissen zu sammeln und fortschrittliche
       Technologien zurückzubringen. [1][Wissenschaftliche Politikberatung] in
       ihrer futuristischen Variante.
       
       Zu dieser virtuellen Zeitreise lädt in der kommenden Woche die von den
       europäischen Wissenschaftsakademien eingerichtete Agentur für
       wissenschaftliche Politikberatung Sapea (Science Advice for Policy by
       European Academies) ein. Im Rahmen der „Berlin Science Week“ setzen sich am
       6. November in einer Veranstaltung im Berliner Museum für Naturkunde zwei
       ihrer renommierten Experten in die Zeitkapsel: Professor Nebojša
       Nakićenović, wissenschaftlicher Chefberater der Europäischen Kommission für
       Energiefragen, und Professor Peter Lund, Vorsitzender der
       Sapea-Arbeitsgruppe für Europas Energiewende.
       
       „Wissenschaftliche Erkenntnisse sind für die Bewältigung der wichtigen
       Herausforderungen, vor denen die Menschheit heute steht, von der
       Einschätzung der gesellschaftlichen Auswirkungen von Covid-19 bis zur
       Abwendung eines katastrophalen Klimawandels, von entscheidender Bedeutung“,
       begründet Sapea-Sprecher Toby Wardman das Anliegen der Forscher, ihre
       Erkenntnisse schneller in den politischen Raum hineinzutragen.
       
       Die letzten Expertisen für die EU-Kommission behandelten die biologische
       Abbaubarkeit von Kunststoffen in freier Umgebung, die Anpassung an die
       gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels und ein nachhaltiges
       Lebensmittelsystem für die EU. „Im Moment bereiten wir uns darauf vor, in
       zwei großen Bereichen Ratschläge zu erteilen“, erklärt Wardman gegenüber
       der taz. Es geht um die Themen „Strategisches Krisenmanagement für die EU“
       und die Verbesserung der Krebsfrüherkennung in Europa.
       
       Vielleicht treffen die Zeitreisenden im Jahr 1988 auf den Hamburger
       [2][Klimaforscher Klaus Hasselmann], der damals noch nicht ahnen konnte,
       dass er für seine Modellberechnungen 2021 den Nobelpreis für Physik
       erhalten sollte. Damals schwante dem jungen Max-Planck-Forscher bereits:
       „In 30 bis 100 Jahren, je nachdem, wie viel fossiles Brennmaterial wir
       verbrauchen, wird auf uns eine ganz erhebliche Klimaänderung zukommen“, so
       Hasselmann in einem Zeitungsinterview. Wie anders wäre die Geschichte
       verlaufen, hätte es damals eine funktionierende Politikberatung gegeben,
       mit der die Klimawarnungen der Forscher politische Kurskorrekturen
       angestoßen hätten.
       
       ## Angebot und Nutzungsbedarf
       
       Heute ist man klüger als damals, aber noch immer nicht klug genug, um zu
       wirksamem Handeln zu gelangen. Der Graben zwischen wissenschaftlichem
       Faktenangebot und politischer Nutzungsbereitschaft ist immer noch groß.
       Auch in Deutschland wird, gerade nach den Erfahrungen der Coronapandemie,
       über Verbesserungen der wissenschaftlichen Politikberatung nachgedacht.
       
       „Wir müssen die Politikberatung neu aufstellen!“, lautet die Lehre, die der
       Chef des Berliner Uni-Klinikums Charité, Heyo K. Kroemer, aus der
       Bewältigung der Covidkrise zieht. In einem Beitrag für die FAZ stellte er
       fest, „dass sich die steigende Nachfrage nach Beratung nicht automatisch in
       eine höhere Wertschätzung wissenschaftlicher Arbeit übersetzt [habe] oder
       gar in größeres Vertrauen in die Ratschläge und Empfehlungen der
       Fachleute“. Der Prozess wissenschaftlichen Arbeitens, der kein endgültiges
       Wissen produziert, sondern eine Bandbreite unterschiedlicher und teils
       widerstreitender Theorien und Praxisansätze, verwirre Politik und
       Öffentlichkeit eher.
       
       „Letztlich unterminiert die unterstellte Beliebigkeit das Vertrauen in die
       Demokratie, denn sie befeuert Vorurteile über politisch Handelnde“,
       befürchtet der Mediziner. „Der Zustand der wissenschaftlichen
       Politikberatung und das Verhältnis der Politik zur Wissenschaft in
       Deutschland sind also ein ernsthaftes Problem – nehmen wir es auch ernst“,
       unterstreicht Kroemer.
       
       Eine seiner Empfehlungen mündet für Deutschland in die Schaffung einer
       „dauerhaft bestehenden, interdisziplinären Struktur zur Politikberatung“,
       die gerade in Krisenzeiten schnell reagieren und fundierten Rat bieten
       kann. Als Vorbild könne die britische „Scientific Advisory Group for
       Emergencies“ (Sage) dienen. Sie besteht aus einer Kerngruppe von 20 bis 30
       Wissenschaftlern und kann über themenspezifische Untergruppen auf den
       Sachverstand von bis zu 300 Experten zugreifen.
       
       Diesem Vorschlag schließen sich auch die beiden Berliner Wissenschaftler
       Stefanie Molthagen-Schnöring und Jan Wöpking an, die in einer aktuellen
       Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung zehn Empfehlungen für „Gute
       wissenschaftliche Politikberatung nach der Pandemie“ erarbeitet haben. „In
       der Pandemie ist Wissenschaft politischer und Politik wissenschaftlicher
       geworden“, stellen sie fest. Dies sei eine Chance, denn wissenschaftliche
       Politikberatung werde für die Bewältigung der kommenden Herausforderungen,
       insbesondere der Klimakrise, „essenziell“ sein.
       
       „Die Aufforderung „Listen to the Science“ der Fridays-for-Future-Bewegung
       bringt das auf den Punkt“, so die Autoren. Es brauche aber zur Schaffung
       eines neuen Modus der Politikberatung eine „verstärkte Reflexion und
       Sensibilisierung darüber, wie Wissenschaft qualitätsgesichert beraten kann,
       wenn sie unter dem extremen Zeit- und Handlungsdruck einer Krise nicht auf
       den etablierten Qualitätssicherungsmechanismus Peer Review zurückgreifen
       kann, schlicht weil das viel zu lange dauern würde“. Das Consulting muss
       schneller werden.
       
       ## Monitoring krisenrelevanter Daten
       
       Eine große Rolle für die neue Politikberatung wird der Einsatz von
       Datentechnologien, speziell der [3][künstlichen Intelligenz (KI)], spielen.
       Gerade die schnelle Pandemie-Reaktion in Deutschland leidet darunter, dass
       es wenig Echtzeitdaten über die Verbreitung des Virus gibt. Aber auch
       international herrschte „ein Mangel an international ausgerichteter
       datenbasierter Politikberatung“, hebt eine Studie der Potsdamer
       Politikwissenschaftlerin Sabine Kuhlmann für das Bundesministerium für
       Bildung und Forschung (BMBF) hervor.
       
       Nötig sei, die nationalen Datenbestände zu aggregieren und sie „in
       supranationale Entscheidungsfindungsprozesse innerhalb der Europäischen
       Union einzubringen“, so Kuhlmann. Es brauche in Europa ein „systematisches,
       grenzüberschreitendes Monitoring krisenrelevanter Daten“, die den
       betroffenen Entscheidungsträgern dann „niedrigschwellig zugänglich“ gemacht
       werden können. Quasi eine Datenunion.
       
       Die sich rasch entwickelnden Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz
       werden nach Ansicht der Potsdamer Studie die wissenschaftliche
       Politikberatung in Zukunft stärker prägen. „Gegenwärtige Herausforderungen,
       wie die Vielfalt der Datenquellen, die Identifikation relevanter Daten und
       ihre angemessene, auf die jeweilige Zielgruppe abgestimmte Aufbereitung
       können durch den Einsatz KI-basierter Systeme wirkungsvoll adressiert
       werden“, erwarten die Autoren. Dies könne dabei helfen, die neuen und
       komplexen Herausforderungen wie die Klimakrise oder die Entwicklungen der
       Digitalisierung besser zu erkennen und zügiger anzugehen.
       
       Damit wäre schon viel geholfen. Vielleicht wird es auch mit
       Technikintelligenz einmal möglich, eine richtige Zeitmaschine zu bauen.
       Aber das ist eine andere Geschichte.
       
       31 Oct 2021
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Manfred Ronzheimer
       
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