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       # taz.de -- Antisemitismusvorwürfe von Gil Ofarim: Wider die Schlammschlacht
       
       > Egal ob Sänger Gil Ofarim beleidigt worden ist oder nicht: Antisemitismus
       > zeigt sich aktuell deutlich demaskierter.
       
   IMG Bild: Demonstration gegen Antisemitismus vor dem Leipziger Hotel „Westin“ Anfang Oktober
       
       Es steht Aussage gegen Aussage. Der Sänger Gil Ofarim bleibt dabei, dass
       ihn ein Leipziger Hotelmitarbeiter antisemitisch beleidigt habe. Ofarim hat
       eine Strafanzeige gestellt. Der Hotelmitarbeiter erklärt Ofarims Erklärung
       für falsch und hat seinerseits eine Anzeige gegen den Sänger gestellt.
       [1][Eine von dem Hotel beauftragte Kanzlei kommt nach Zeugenbefragungen zu
       dem Schluss, dass niemand Ofarims Darstellung bestätigen kann]. Die
       Videoaufnahmen sind uneindeutig. Sie sind ohne Ton, und es ist nicht genau
       zu erkennen, ob Ofarim eine Kette mit Davidstern trug, mit der er als
       jüdisch zu erkennen gewesen sein soll. Die Staatsanwaltschaft ermittelt und
       äußert sich zum Stand ihrer Erkenntnisse vorläufig nicht.
       
       Ist Ofarim Opfer eines Antisemiten? Oder hat der Sänger die Geschichte
       erfunden? Es wäre weise, wenn die Öffentlichkeit sich nun gedulden würde,
       bis sie zu einer Bewertung des Vorfalls kommt. Doch in Zeiten der sozialen
       Medien ist so ein Ratschlag wohl weltfremd. Allein der Verdacht – und mehr
       ist es bisher eben nicht –, dass Ofarim eine judenfeindlichen Angriff
       erfunden haben könnte, reicht aus, damit Twitter, Facebook & Co
       überschäumen.
       
       Zunächst einmal gilt für alle Beteiligten die Unschuldsvermutung. In
       Anbetracht der divergierenden Darstellungen ist es richtig, dass die
       Staatsanwaltschaft den Vorfall prüft. Es ist allerdings angesichts der
       Indizienlage durchaus vorstellbar, dass sie zu keiner eindeutigen
       Beweislage kommt. Das hat in solchen Fällen meist eine Einstellung des
       Verfahrens zur Folge.
       
       Viele der fasziniert gaffenden Zuschauer der nun aufgeführten veritablen
       Schlammschlacht meinen, allein die Vorstellung, dass Ofarim Antisemitismus
       herbeifantasiert haben könnte, sei eine Ungeheuerlichkeit. Die einen kommen
       zu dem Schluss, dass dies der Sache, also dem Kampf gegen den Judenhass,
       [2][wenig dienlich sei, sollte dies stimmen.] Die anderen konstruieren,
       dass der Antisemitismus in Deutschland ja gar nicht so schlimm sein könne,
       wenn er schon erfunden werden müsste.
       
       ## Täter- und Opfertausch
       
       Dazu ist zu sagen: Die Imagination judenfeindlicher Attacken oder
       verwandter Behauptungen kommt vor, selten immerhin, aber so etwas gibt es.
       Vor Jahren machte eine Jugendliche mit der Geschichte auf sich aufmerksam,
       [3][Neonazis hätte ihr ein Hakenkreuz in die Haut eingeritzt. Die Story war
       gelogen], sie hatte es selbst geritzt. Von einem ganz anderen Kaliber ist
       die Geschichte eines Schweizer Autors, der sich als Holocaust-Überlebender
       tarnte und damit Bekanntheit gewann. Und erst im letzten Jahr behauptete
       ein Nebenkläger in einem Prozess gegen den NS-Wachmann D. in Hamburg, er
       sei als Jude im KZ Stutthof gefoltert worden. Nichts davon entsprach der
       Wahrheit.
       
       All diese Imaginationen folgen der Logik, dass der Antisemitismus –
       glücklicherweise – so stark tabuisiert ist, dass sich daraus Aufmerksamkeit
       generieren lässt. Die Täter wollen Opfer sein, um ihre gesellschaftliche
       Aufwertung zu erreichen, und sei es, indem man sich als Verfolgter von
       judenfeindlichen Nazis präsentiert.
       
       Die Vorfälle unterscheiden sich prinzipiell aber nicht von anderen
       Vorkommnissen der Selbstsucht, etwa, in dem man sich als Opfer einer schwer
       kriminellen Tat präsentiert, die es nicht gegeben hat, oder wenn man mit
       intimen Beziehungen zu Prominenten prahlt, die nicht vorhanden sind.
       
       Solche Erfindungen vertauschen Täter und Opfer. Sie lassen daher den
       Beobachter zweifelnd zurück. In diesem Fall heißt das: Sind die Juden
       ehrlich? Ist der Judenhass wirklich so schlimm?
       
       ## Man kommt immer raus beim Ressentiment
       
       Diese Legenden setzen sich gerade in vielen Köpfen fest, obwohl keineswegs
       bewiesen ist, dass Ofarim nicht die Wahrheit sagt. Die erste Frage
       impliziert, dass Juden in irgendeiner Weise „anders“ sind. Das entspricht
       einem antisemitischen Ressentiment. Womit wir beim zweiten Punkt sind,
       nämlich der Leugnung eines weit verbreiteten Antisemitismus in der
       deutschen Gesellschaft.
       
       Hier ist es freilich nur zu offensichtlich, dass den Protagonisten dieser
       Erzählung Vorfälle wie die genannten nur allzu willkommen sind, um etwas zu
       leugnen, was angesichts der Statistiken von Polizei und Opferverbänden
       offensichtlich ist: Antisemitismus ist ein Alltagsphänomen, das sich in
       jüngster Zeit deutlich demaskierter zeigt. Vertreter diese These stehen
       daher in dem begründeten Verdacht, selbst Antisemiten zu sein.
       
       28 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Interne-Ermittlung-im-Fall-Gil-Ofarim/!5811607
   DIR [2] /Antisemitismusvorwurf-von-Gil-Ofarim/!5805808
   DIR [3] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/mittweida-die-dubiose-geschichte-vom-eingeritzten-hakenkreuz-a-524050.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus Hillenbrand
       
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