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       # taz.de -- Politische Krise in Tunesien: Saied setzt neue Regierung ein
       
       > Nach der Entmachtung von Regierung und Parlament hat Präsident Saied ein
       > neues Kabinett ernannt. Dessen Vollmachten sind allerdings beschränkt.
       
   IMG Bild: Demonstration für den tunesischen Präsidenten Saied in Tunis Anfang Oktober
       
       Tunis taz | In ihrer ersten öffentlichen Rede hat Tunesiens neue
       Premierministerin Najla Bouden Romdhane am Montagvormittag ihre
       Regierungsmannschaft vorgestellt. Am Mittag empfing dann Präsident Kais
       Saied die von ihm Ende September nominierte Bouden und ihre 22
       MinisterInnen in seinem Palast in der Hauptstadt Tunis.
       
       Damit teilt sich Saied elf Wochen nach der umstrittenen Beurlaubung des
       Parlaments und der Entlassung der Vorgängerregierung wieder die Macht im
       Land. Unklar bleibt jedoch, wie eigenständig die Premierministerin agieren
       kann. Der mit weiten Machtbefugnissen ausgestattete Kais Saied [1][hatte
       die Geologieprofessorin per Dekret berufen] und will offenbar mitregieren.
       Boudens Amtsvollmachten sind nach der Ausweitung der präsidialen
       Vollmachten begrenzt.
       
       Das Ende der zweiten Republik, die nach der Revolution von 2011 mit einer
       international gelobten Verfassungsreform 2014 begann, hatten viele
       TunesierInnen im Juli zunächst euphorisch bejubelt. Doch statt der
       erhofften Ankündigung eines umfassenden Reformpakets verstieg sich der
       63-jährige Rechtsprofessor in den Folgewochen ausschließlich in öffentliche
       Diffamierung seiner politischen Gegner.
       
       Den ParlamentarierInnen strich Saied sogar die Bezüge; das
       Parlamentsgebäude in Tunis ließ er abriegeln. Der 2019 wegen seiner
       basisdemokratischen Gesinnung und einem Ruf der Unbestechlichkeit mit über
       70 Prozent der Stimmen gewählte Saied warf den ParlamentarierInnen die
       ausschließliche Verfolgung von Eigeninteressen sowie Landesverrat vor.
       Trotz der weltweit höchsten Zahl von Coronaneuinfektionen und einer
       brachliegenden Wirtschaft war die politische Elite des Landes untätig
       geblieben.
       
       ## Ennahda liegt in Trümmern
       
       Saied richtete sich in seiner Rede vor den neuen MinisterInnen am Montag
       vor allem gegen die moderaten IslamistInnen der Ennahda-Partei, die nach
       dem Austritt von über 100 prominenten Parteimitgliedern derzeit in Trümmern
       liegt. Doch nur wenige TunesierInnen wollen eine weitere Eskalation des
       Konflikts zwischen den politischen Lagern, die im Frühjahr sogar zu
       Schlägereien und Beleidigungen im Parlament sowie zu einer landesweiten
       Ablehnung der ParlamentarierInnen geführt hatte.
       
       An den vergangenen Wochenenden hatten sich jeweils bis zu 5.000
       AnhängerInnen und GegnerInnen Saieds friedlich im Zentrum von Tunis
       versammelt. Während BefürworterInnen des [2][Präsidentenputsches] Saied vor
       der Wiedereinsetzung des alten Parlaments warnen, fordern seine Gegner ein
       Ende der „Rückkehr der Ein-Mann-Herrschaft“, wie es am Wochenende auf
       vielen Plakaten hieß.
       
       Abgesehen von den Demonstrationen ist es in den vergangenen Wochen auf der
       Straße vor allem aufgrund einer starken Polizeipräsenz relativ ruhig
       geblieben. Doch vereinzelte Übergriffe von DemonstrantInnen gegen
       Medienschaffende des staatlichen Fernsehsenders Watania am Wochenende und
       die Verhaftungen von Saied-kritischen KommentatorInnen durch Beamte in
       Zivil in den Wochen zuvor zeigen, wie schnell die Lage eskalieren kann.
       
       ## Reformideen für den Tourismussektor
       
       Politische BeobachterInnen in Tunis bewerteten die Ernennung von sieben
       Frauen und vielen anerkannten ExpertInnen zu MinisterInnen zunächst
       positiv. Auch der Altersdurchschnitt der Bouden-Regierung liegt weit unter
       dem des Vorgängerkabinetts. Minister für Tourismus ist nun der 44-jährige
       Moez Belhassine, der bis Montag Generaldirektor des Fremdenverkehrsverbands
       war und Konzepte für individuelle Tourismusmodelle und gegen das bisherige
       defizitäre Pauschalurlaubsmodel vorantrieb.
       
       „Eine sehr gute Wahl, da Belhassine seit langer Zeit an der konkreten
       Umsetzung solcher Ideen arbeitet“, meint Farhat Tanfous, Hotelier und
       Honorarkonsul auf Djerba. „Die tatsächliche Machbarkeit von lang
       angedachten Reformen ist nun die Herausforderung der neuen Regierung.“
       
       Die Ernennung von Hayet Guermazi zur Kulturministerin wurde von Vertretern
       der Zivilgesellschaft positiv bewertet. Die Historikerin hatte sich im
       Rahmen internationaler Partnerschaftsprojekte um die Bewerbung mehrerer
       tunesischer Orte zum Weltkulturerbe bemüht und gilt als weltoffen.
       
       Die neue Finanzministerin Sihem Boughederi Nomsieh hat Karriere in mehreren
       privaten Banken und Ministieren gemacht. Aus Sicht westlicher DiplomatInnen
       soll sie westlichen Geldgebern und der Delegation des Weltwährungsfonds IMF
       die Sicherheit geben, dass das hochverschuldete Tunesien sich an seine
       Zahlungsverpflichtungen halten wird.
       
       Doch dazu müssten erst einmal die dringend benötigten Kredite fließen. Mit
       seinen düsteren Reden über lauernde „Feinde Tunesiens“ und mit kaum
       konkreten Reformideen hat Saied mögliche Geldgeber und viele TunesierInnen
       eher abgeschreckt. Nun muss Bouden übernehmen.
       
       12 Oct 2021
       
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