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       # taz.de -- Soziologe über Proteste in Kolumbien: „Ein Akt der Solidarität“
       
       > Im Frühjahr erlebte Kolumbien die größten Proteste seit über 50 Jahren.
       > Soziologe Luis Carlos Castillo erklärt, wie die Soziale Bewegung entstand
       > und was sie fordert.
       
   IMG Bild: Eine Ente trägt ein Kopftuch in den Nationalfarben während eines Protests gegen die Regierung
       
       taz am wochenende: Herr Castillo, am 28. April 2021 demonstrierten in
       Kolumbien landesweit Menschen überwiegend friedlich gegen die Regierung. Es
       waren die größten Proteste seit über 50 Jahren. Bald darauf gab es erste
       Tote, Dutzende Verletzte, Demonstrant:innen verschwanden und werden bis
       heute vermisst. Wie kam es dazu?
       
       Luis Carlos Castillo: Proteste dieser Art gibt es seit 2019 in Kolumbien.
       Der Aufruf dazu ging auch dieses Mal vom Nationalen Streikkomitee (Comité
       Nacional de Paro) aus, einem Zusammenschluss von Vertretern zentraler
       Arbeitnehmerorganisationen, Gewerkschaften und Studierendenverbänden. Im
       April 2021 nahm man noch an, dass die Proteste nach ein paar Tagen wieder
       abflauen würden. Doch in den Ballungszentren [1][begann sich eine Bewegung
       zu formieren], die vor allem von jungen Menschen aus den urbanen Slums
       angeführt wurde. Sie griffen zu einer anderen Protestform, die Regierung
       antwortete mit Gewalt.
       
       Wie protestierten sie? 
       
       Sie errichteten Barrikaden an wichtigen Verkehrsknotenpunkten und schnitten
       die Städte zeitweise von der Versorgung mit Nahrungsmitteln, Medikamenten
       und Treibstoff ab. In Cali, dem Epizentrum der Proteste, waren es
       zwischenzeitlich 29 Blockaden, vor allem in ärmeren Siedlungen. Ein
       Großteil ihrer Bewohner sind Afrokolumbianer. Auch indigene Gruppen
       schlossen sich an. Barrikaden zu errichten, ist eine indigene Praxis des
       Widerstands, die Ende des 20. Jahrhunderts bei ihrem Kampf um
       Gleichberechtigung entstand.
       
       Was forderten sie? 
       
       Der Auslöser für die Proteste war eine Steuerreform von Präsident Iván
       Duque. Sie hätte besonders die Mittelschicht und den arbeitenden Sektor
       belastet, also jene Gruppen, die bereits stark von den Auswirkungen der
       Pandemie betroffen waren. Das Streikkomitee forderte unter anderem die
       Rücknahme der Reform und den Rücktritt des Finanzministers. Die jungen
       Protestierenden hingegen stellten allgemeinere Forderungen auf: Arbeit,
       Zugang zu höherer Bildung, Nahrungssicherheit und das Recht auf Leben.
       Letzteres forderten sie angesichts der extremen Gewalt, mit der der Staat
       gegen sie vorging.
       
       Wie erfolgreich waren sie mit ihren Forderungen? 
       
       Einige hat die Regierung umgesetzt: Die Steuer- und die Gesundheitsreform
       sowie eine umstrittene Regelung für Studiengebühren wurden zurückgenommen,
       der Finanzminister und die Außenministerin sind zurückgetreten. Aber die
       hohe Arbeitslosigkeit, besonders in der Gruppe der 18- bis 28-Jährigen, und
       die wachsende Zahl hungerleidender Menschen bleiben bestehen. Kolumbien ist
       ein Land mit einer sehr hohen Einkommensungleichheit. [2][Die Pandemie und
       das Missmanagement der Regierung] haben das Land zusätzlich in eine
       Wirtschaftskrise geführt.
       
       Wie kam es zu diesem Ausmaß an Gewalt? 
       
       Die Regierung war zu keinem Dialog bereit. Sie bezeichnete die
       Protestierenden von Beginn an als Verbrecher und Terroristen, mit denen man
       nicht verhandeln dürfe. Und sie bediente sich einer Verschwörungserzählung,
       laut der der venezolanische Präsident Nicolás Maduro ein kommunistisches
       Komplott geschmiedet habe, um die rechtskonservative Regierung in Kolumbien
       zu stürzen. Also entsandte [3][Präsident Duque] erst eine Spezialeinheit
       der Polizei, dann das Militär. Dass die Protestbewegung dennoch von einem
       breiten gesellschaftlichen Spektrum Solidarität erfuhr, lag auch daran,
       dass die Universitäten die Regierung öffentlich für ihr Verhalten
       kritisierten und sie dazu aufrief, auf das zu hören, was die Menschen von
       der Straße ihr zu sagen hätten.
       
       Warum war Cali das Epizentrum der Proteste? 
       
       Cali ist die drittgrößte Stadt Kolumbiens. Sie liegt in der Provinz Cauca
       im Südwesten des Landes, wo viele indigene und afrokolumbianische Gruppen
       leben. Wegen der Blockaden fürchtete die weiße Minderheit der oberen
       Schichten wirtschaftliche Verluste. Es kam auch zu Übergriffen der weißen
       Minderheit auf Protestierende. So schossen Maskierte aus teuren Autos auf
       die jungen Leute an den Barrikaden und töteten so mehrere Demonstranten.
       Es ist unklar, wer die Täter waren und woher sie die Waffen hatten. Aber es
       wird vermutet, dass paramilitärische Kräfte dafür verantwortlich sind.
       
       Wie konnten es die Protestierenden dennoch schaffen, die Barrikaden über
       Wochen aufrechtzuerhalten? 
       
       Sie waren sehr gut organisiert. In der sogenannten Primera Linea standen
       die jungen Männer und Frauen direkt den Einsatzkräften gegenüber. In der
       zweiten Reihe standen Leute, die diese Frontlinie mit Lebensmitteln,
       Verbandszeug und Medikamenten versorgten. Dahinter wiederum dokumentierten
       Protestierende in Echtzeit den Widerstand in den sozialen Medien. Dieses
       Organisationsprinzip wurde im Oktober 2019 auch schon [4][in Chile
       angewandt] und in Kolumbien später übernommen. Die sozialen Medien
       erleichtern den Austausch über Protestformen immens.
       
       Die deutsche Aktivistin Rebecca Sprößer schloss sich der Primera Linea in
       Cali an, bis sie des Landes verwiesen wurde. Wie wurde in Kolumbien über
       ihren Fall gesprochen? 
       
       Die regierungsnahen Medien hielten ihre Abschiebung für richtig, demnach
       hätte sie sich in einen politischen Konflikt mit nationalem Charakter
       eingemischt, ohne Staatsangehörige zu sein. Aber ein Großteil der
       Bevölkerung wertete Sprößers Aktivismus als Akt der Solidarität.
       
       Hatten Sie Angst vor einem Bürgerkrieg? 
       
       Einige Beobachter befürchteten das zwischenzeitlich, ich nicht. Wir
       Kolumbianer kommen gerade erst aus einem bewaffneten Konflikt, der
       Jahrzehnte dauerte. Und ich glaube, dass dessen Aufarbeitung wie eine Art
       Impfstoff wirkt, der das Land vor einer erneuten zivilen Konfrontation
       bewahrt.
       
       Seit der ehemalige Präsident Juan Manuel Santos 2016 ein Abkommen mit der
       Guerilla-Organisation Farc abschloss, befindet sich das Land in einem
       [5][Friedensprozess]. Welche Rolle spielte das bei den Protesten? 
       
       Das Friedensabkommen hätte viele gesellschaftliche Probleme lösen können
       wie etwa eine gerechtere Verteilung von Land und eine politische
       Beteiligung demobilisierter Kämpfer in demokratischen Institutionen. Aber
       Präsident Duque, ein vehementer Kritiker des Abkommens, hat den Prozess
       durch einen Änderungsantrag des Gesetzes behindert. Dies hat bei den
       Protesten sicher auch eine Rolle gespielt. In Cali waren einige der
       Jugendlichen ehemalige Guerilla-Angehörige.
       
       Wie blicken Sie in die Zukunft? 
       
       Im Mai 2022 sind Präsidentschaftswahlen und es zeichnet sich bereits eine
       Abkehr von den bisherigen politischen Verhältnissen ab. Laut aktuellen
       Umfragen liegt der linke Kandidat Gustavo Petro vorn. Aber es kann noch
       viel passieren. Die Protestbewegung ist weiterhin aktiv. Sie fordert die
       Aufklärung der Todes- und Vermisstenfälle.
       
       16 Oct 2021
       
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