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       # taz.de -- Wagner an der Deutschen Oper Berlin: Der Mann am Klavier
       
       > Stefan Herheims „Götterdämmerung“ an der Deutschen Oper Berlin lässt die
       > nötige Distanz zum Wagnerschen Unsinn vermissen.
       
   IMG Bild: Aus der „Götterdämmerung“ mit Thomas Lehman als Gunther und Clay Hilley als Siegfried
       
       Jetzt sind sie angekommen, die Frauen und Männer, die ihre Koffer gepackt
       hatten, um auszuwandern. Überall könnte es besser sein und auf der Bühne
       der Deutschen Oper hatten sie Pause gemacht. Eine Art Festung war aus ihren
       abgestellten Koffern entstanden.
       
       Zu sehen ist davon nichts mehr. Komplett integriert stehen die Flüchtlinge
       im Foyer der [1][Deutschen Oper,] das Stefan Herheim, der Regisseur, mit
       seiner Bühnenbildnerin Silke Bauer in einer exakten Kopie auf der Bühne
       nachgebaut haben. Auch ein Meisterwerk, aber der architektonischen Moderne
       und statt der Helden und Maiden von Richard Wagner sehen wir uns nur
       selber, in Abendrobe mit Sektglas in der Hand.
       
       In Bayreuth sind bekanntlich die Pausen das Wichtigste. Man trifft sich
       unter seinesgleichen im Bewusstsein, sich Wagner leisten zu können,
       ideologisch und finanziell gleichermaßen.
       
       Hier jedoch verdirbt die Lichtregie von Ulrich Niepel die Party. Grell
       rotes Blitzen lässt die feine Gesellschaft erstarren, drei weiß gekleidete
       Frauen mit schwarzer Augenbinde ziehen ein meterlanges Leichentuch herein,
       unter dem ein ganzer Konzertflügel Platz hat.
       
       ## Ballett aus Händen, Armen und Hüften
       
       Herheim blickt zurück. [2][Der Konzertflügel stand schon am sogenannten
       „Vorabend“ dessen, was Wagner „Bühnenfestspiel“ nannte, mitten unter den
       Koffern.] Einer der Wanderer schlug einen Ton an, ein tiefes „Es“, wie alle
       im Saal wussten. Endlose Minuten dehnte sich der Akkord auf diesem
       Grundton, die Flüchtlinge begannen zu tanzen, legten ihre verschmutzten
       Oberkleider ab und Wagners Natur wurde ein Ballett aus Händen, Armen und
       Hüften.
       
       Heute gehört das Klavier den Nornen, denn auch Wagner blickt zurück. Das
       Mobile aus Stahlwolken, das die Optik des Foyers prägt, ist zur Weltesche
       geworden. Anna Lapowskaja, Karis Tucker und Alle Asszony erzählen mit ihren
       sehr schönen Stimmen alles von Anfang an. Und das Ende gleich dazu. Das
       mythische Seil des Schicksals reißt, das sie aus dem Leichentuch reihum zu
       spinnen versuchen. Niemand überlebt.
       
       ## Flucht in die Fabelwelt
       
       Man sieht, warum es so schwer ist, Wagners „Ring“ zu inszenieren. Er könnte
       ein Vorläufer moderner Seriendramaturgie sein, ist es aber nicht, weil
       solch krasse Spoiler jede Spannung abwürgen. Herheims Grundidee war für das
       „Rheingold“ und die „Walküre“ ein verblüffender Ausweg: Diese ganze
       Fabelwelt von Göttern, Zwergen und Riesen ist ein spielerischer, manchmal
       operettenhafter Spaß für Leute, die sich in der wirklichen Welt nicht wohl
       fühlen.
       
       Der Mann am Klavier macht sie glücklich, alles kommt aus dem Kasten heraus,
       Zauberkünstler, Amazonen, Ehekrach, Diktatoren der Unterwelt, immer in
       spektakulären Arrangements von fließenden Tüchern und Strömen aus farbigem
       Licht.
       
       Natürlich ist Richard Wagner selbst der Mann am Klavier. Es sind seine
       kleinen und großen Fluchten in Räume, in denen alles Platz hat, bei ihm vor
       allem Rassismus, Naturromantik und pubertäre Sexualität. Aber auch andere
       dürfen sich an die Tastatur setzen und reinhauen, was ihnen gerade gefällt.
       Wer irgend etwas davon ernst nimmt, ist halt selber schuld, gibt Herheim zu
       verstehen und empfiehlt, der Musik zuzuhören.
       
       In der „Götterdämmerung“ jedoch lässt sich Wagner diese Befriedung seiner
       Polemik nicht mehr gefallen. Er meint es ernst. Die idealisierte Welt
       seiner Mythen muss untergehen, weil die Gibichingen schon jetzt die
       Gegenwart beherrschen, ordinäre und heimtückische Bürger. Sie heißen Hagen,
       Gunter und Gutrunde, stehen im Foyer der Oper herum und schauen zu, wie
       Brünhilde und Siegfried aus dem Klavier kommen.
       
       Clay Hilley ist ein korpulenter Mann mit gewaltätiger Tenorstimme, Nina
       Stemme eine schüchterne Frau, deren Sopran manchmal unter Wagners
       Anforderungen leidet. Macht nichts, weil es sehr gut zusammen passt, trägt
       aber nicht über die drei Akte hinweg, die sich nun in mühselige Längen
       ziehen. Denn für die Intrigen der neuen, eigentlich alten Herrschaften hat
       Herheim keine Mittel.
       
       Sie brauchen den Mann am Klavier nicht, der Kofferberg ist hinter einer
       schwarzen Wand versteckt, die sich nur manchmal öffnet. Am Ende sind
       sämtliche Kulissen abgeräumt, Niepel lässt seine Scheinwerfer herabfahren.
       Sie blenden kurz in den Saal und verlöschen dann auch.
       
       Dämmerung im Wortsinne also, wie es überhaupt Herheims Art ist, alles
       penibel beim Wort zu nehmen. Nur fehlt jetzt das Theater, das die nötige
       Distanz zum Unsinn erzeugt hat. Übrig bleibt der Rat, der Musik zuzuhören.
       Das lohnt sich bis zuletzt. Donnald Runnicles ist es meisterhaft gelungen,
       sein Orchester mit solcher Plastik und sensibler Energie spielen zu lassen,
       dass man gebannt zuhört und staunt, mit welcher Kunst Wagner, dieser
       Berserker des Textes, seine Musik komponiert hat. Dafür zu Recht dankbarer
       Applaus. Herheim wurde ein wenig ausgebuht, aber das gehört sich so in der
       Oper.
       
       18 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Niklaus Hablützel
       
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