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       # taz.de -- Forderung nach Mindestlohn: Teilhabe reicht nicht
       
       > Lukas Krämer fordert den Mindestlohn in Werkstätten für Menschen mit
       > Behinderung. Doch nicht alle in den Werkstätten unterstützen den
       > Vorschlag.
       
   IMG Bild: Kein Mindestlohn? Eine Werkstatt der Lebenshilfe für Menschen mit Behinderung
       
       Ein Euro und 35 Cent pro Stunde, so viel verdiente Lukas Krämer – ein
       üblicher Lohn in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Diesen Lohn
       empfindet Krämer als Frechheit. Er stellt Videos auf seinen Youtube-Kanal
       mit Titeln wie: [1][„Ausbeutung in der Behindertenwerkstatt.“] Krämer kann
       wegen einer Hirnhautentzündung in der Kindheit nicht Deutsch lesen oder
       schreiben. Übers Internet kommuniziert er dank Hilfsmitteln: Der
       Google-Übersetzer hat eine Diktier- und eine Vorlesefunktion.
       
       Im April veröffentlichte er seine [2][Petition]: Mindestlohn für Menschen
       mit Behinderungen, die in Werkstätten arbeiten. Seine Forderung
       unterstützen mittlerweile mehr als 130.000 Menschen.
       
       Carsten Müller-Meine gehört nicht dazu. Er leitet die Werkstatt vom
       Deutschen Roten Kreuz Sozialwerk, in der Krämer früher arbeitete. Die
       Werkstätten seien keine reinen Arbeitgeber, sondern hätten einen
       Rehabilitations- und Teilhabeauftrag, sagt er.
       
       Teilhabe findet Lukas Krämer als Lohn aber nicht ausreichend: „Diese
       Vollzeitarbeit, von der man nicht leben kann, nennt man ‚Teilhabe‘. Unser
       Lohn soll also sein, dass wir überhaupt arbeiten dürfen, für andere Gewinn
       machen dürfen?“
       
       In einer Studie untersucht das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
       verschiedene Konzepte für Lohn in den Werkstätten. Eines davon ist das
       Basisgeld der Werkstatträte Deutschland, das vom bedingungslosen
       Grundeinkommen inspiriert ist. Am Montag wurde der erste
       [3][Zwischenbericht] veröffentlicht. Darin steht, der Monatslohn stiege mit
       dem Basisgeld (1.623 Euro) sogar stärker als mit dem Mindestlohn (1.047
       Euro).
       
       ## Diskussion um Abschaffung der Werkstätten
       
       Doch bei dieser Diskussion geht es nicht nur um Geld, sondern auch darum,
       ob man die Werkstätten abschaffen sollte oder nicht. Die UN kritisierten
       2015, die Werkstätten seien nicht kompatibel mit der
       UN-Behindertenrechtskonvention und müssten aufgelöst werden.
       
       Die Behindertenpolitik-Sprecherin der Grünen, Corinna Rüffer, fordert diese
       Auflösung. Für Rüffer ist der Petent Lukas Krämer ein Beweis dafür, dass
       eine individuelle Förderung besser ist als eine Sonderwelt wie in den
       Werkstätten: Auf der Förderschule schaffte er keinen Abschluss. Jetzt
       produziert er in Rüffers Social-Media-Team Videos und lernt sogar
       Japanisch.
       
       Der Bericht des Arbeitsministeriums räumt ein: Die Werkstätten sind nicht
       ideal. Aber sie seien legal.
       
       Kristina Schulz von den Werkstatträten Deutschland sagt, viele Menschen in
       der Werkstatt schätzten den geschützten Raum. Immer mehr kämen nicht über
       die Förderschule dorthin, sondern fühlten sich im ersten Arbeitsmarkt
       überfordert. So ging es auch Schulz selbst, die Diplom-Psychologin ist. Sie
       war auf dem ersten Arbeitsmarkt, arbeitet heute aber lieber in einer
       Werkstatt.
       
       Den Mindestlohn lehnt sie ab. Derzeit können die Menschen in der Werkstatt
       selbst entscheiden, wie viel sie arbeiten. Bei Zahlung des Mindestlohns
       müssten die Werkstätten mehr erwirtschaften. Schulz befürchtet, dass auch
       dort Leistungsdruck entstünde. Als normale Arbeitnehmerin müsste sie zudem
       auf Sonderrechte verzichten, etwa beim Kündigungsschutz.
       
       Doch das alles überzeugt Krämer nicht. Er findet: „Was bringt mir ein
       Kündigungsschutz, wenn ich nur 1,35 Euro die Stunde verdiene?“
       
       30 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=fuoZA4_n7BA
   DIR [2] https://www.change.org/p/olafscholz-stelltunsein-ich-fordere-den-mindestlohn-f%C3%BCr-menschen-in-behindertenwerkst%C3%A4tten
   DIR [3] https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Forschungsberichte/fb-586-studie-entgeltsystem-menschen-mit-behinderungen-zwischenbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=3
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rebecca Ricker
       
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