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       # taz.de -- Rittenhouse-Verfahren in den USA: Prozess gegen Todesschützen
       
       > 2020 folgte Kyle Rittenhouse dem Aufruf einer rechten Miliz gegen
       > Antirassismusproteste und erschoss zwei Menschen. Jetzt steht er vor
       > Gericht.
       
   IMG Bild: Kyle Rittenhouse vorige Woche bei einem Vorprozesstermin in Kenosha, USA
       
       New York taz | Kyle Rittenhouse hat am späten Abend des 25. August 2020 mit
       seinem halbautomatischen Gewehr vom Typ AR-15 [1][zwei Teilnehmer einer
       antirassistischen Demonstration in Kenosha erschossen] und einen dritten
       verletzt. Das ist auf Videos zu sehen. Und das bestreitet nicht einmal er
       selbst. Aber wenn an diesem Montag sein Prozess beginnt, wird er sich wie
       in den zurückliegenden Monaten auf „Selbstverteidigung“ berufen.
       
       In Richter Bruce Schroeder scheint der Angeklagte jemanden gefunden zu
       haben, auf den er hoffen kann. Schroeder hat schon vor Prozessbeginn
       verboten, dass die Staatsanwaltschaft das Wort Opfer für die Toten und den
       Verletzten benutzt. Hingegen gestattet er den Verteidigern, dass sie die
       Opfer als Plünderer, Brandschatzer und Krawallmacher bezeichnen.
       
       Für radikale Rechte in den USA ist Rittenhouse ein Held. In ihrer Kampagne
       haben sie ihn als „amerikanischen Patrioten“ gefeiert und unter anderem
       zwei Millionen Dollar für seine Kaution gesammelt. Rittenhouse, der wegen
       vorsätzlichen Totschlags und fünf weiterer Verbrechen angeklagt ist, kam
       dank ihrer massiven Unterstützung schon nach wenigen Wochen hinter Gittern
       wieder auf freien Fuß. „Bevorteilung eines weißen Angeklagten“, sagten
       Black-Lives-Matter-Aktivisten.
       
       Wohingegen die weiße Journalistin und rechte Meinungsmacherin Ann Coulter
       tweetete: „Wenn ich einen Bodyguard brauche, nehme ich Kyle Rittenhouse.“
       Auch der damalige Präsident Donald Trump beteiligte sich an der Kampagne.
       Schon wenige Tage nach den Schüssen benutzte er bei einem Blitzbesuch in
       Kenosha das Wort „Selbstverteidigung“.
       
       ## „Nichttödliche Waffen haben wir nicht“
       
       Am Tag der Tat war Rittenhouse mit dem Auto aus dem Nachbarstaat Illinois
       nach Kenosha gekommen. Er folgte einem Aufruf, den die Bürgerwehr „Kenosha
       Guard“ auf Facebook veröffentlicht hatte. Die Kleinstadt Kenosha war in
       Aufruhr, nachdem zwei Tage zuvor ein weißer Polizist [2][einen 29-jährigen
       schwarzen Mann mit sechs Schüssen in den Rücken schwer verletzt hatte].
       
       Am Rand der Proteste gegen Polizeigewalt war es in Kenosha auch zu
       Plünderungen und Bränden gekommen. Viele Milizionäre kamen mit
       halbautomatischen Waffen. Sie glaubten, die Polizei brauche ihre
       Verstärkung.
       
       „Ich schütze die Geschäfte und die Menschen“, sagte Rittenhouse an jenem
       Dienstag in Kenosha zu dem rechten Online-Medium Daily Caller. Vor seiner
       Brust kreuzten sich die Tragebänder einer Sanitätstasche und seines
       halbautomatischen Gewehrs. „Nichttödliche Waffen haben wir nicht“, fügte er
       hinzu.
       
       Stunden später erschoss er den 36-jährigen Joseph Rosenbaum auf einem
       Parkplatz im Stadtzentrum. In einem anschließenden Handgemenge versuchten
       mehrere Demonstranten, Rittenhouse zu stoppen. Der stolperte und schoss
       erneut. Sein zweites Opfer war der 26-jährige Rollerskater Anthony Huber.
       Sein drittes Opfer war der 21-jährige Gaige Grosskreutz. Ihn traf eine
       Kugel im Arm. Alle drei Opfer waren weiß. Alle drei hatten versucht,
       Rittenhouse zu entwaffnen. Die beiden Toten waren unbewaffnet. Der
       überlebende Grosskreutz trug eine Pistole, setzte sie aber nicht ein.
       
       ## Die Polizei lässt Rittenhouse in der Tatnacht in Ruhe
       
       [3][Rittenhouse] war erst 17. Seine runden Pausbäckchen und die
       hochgezogenen Augenbrauen ließen ihn noch jünger aussehen. Aber die
       örtliche Polizei in der Stadt in Wisconsin, wo nur Volljährige das Recht
       haben, Waffen zu tragen, hatte keine Einwände, als er sich mit seinem
       halbautomatischen Gewehr in der Innenstadt einfand. Auf einem Video ist zu
       sehen, wie Lokalpolizisten ihm und anderen Bewaffneten Wasserflaschen geben
       und ihnen für ihr Kommen danken.
       
       Gleichzeitig fanden auch an zahlreichen anderen Orten der USA
       Demonstrationen gegen Rassismus in der Polizei statt. Drei Monate zuvor
       hatte ein weißer Polizist in Minneapolis [4][George Floyd] ermordet. Er
       hatte mehr als neun Minuten auf dem Nacken des unbewaffneten schwarzen
       Mannes gekniet. Während Millionen junger Leute gegen Rassismus
       mobilisierten, unterstützte Rittenhouse die Polizei. Er wollte schon lange
       selbst Polizist werden. Nach George Floyds Tod veröffentlichte er auf
       seiner TikTok-Seite mehrfach das Logo von „Blue Lives Matter“, das auf die
       blaue Farbe der Polizeiuniformen anspielt.
       
       Nach seinen ersten Schüssen in Kenosha zückte Rittenhouse nicht seine
       Sanitätstasche, um dem sterbenden Rosenbaum zu helfen, sondern sein Handy.
       Videos zeigen, dass er in sein Telefon sprach: „Ich habe gerade auf
       jemanden geschossen.“ Zwei Opfer später ging er mit erhobenen Händen im
       Scheinwerferlicht auf Polizeiwagen zu, die zum Tatort kamen. Auf Videos von
       der nächtlichen Szene sind Stimmen von Menschen zu hören, die rufen: „Er
       ist es. Er hat geschossen.“
       
       Doch die Polizei lässt ihn in Ruhe. Ein Freund fährt Rittenhouse an dem
       Abend nach Illinois, wo er mit seiner Mutter und seinen Schwestern lebt.
       Erst Stunden später bringt Rittenhouse’ Mutter ihn zur Polizei. Später
       verkauft sie Bikinis mit der Aufschrift „Free Kyle“, um Geld für die
       Verteidigung ihres Sohnes zu sammeln.
       
       ## Verbindung zu „Proud Boys“
       
       Als Rittenhouse wenige Wochen später auf freien Fuß kommt, erscheinen Fotos
       von ihm mit Mitgliedern der rechtsradikalen „Proud Boys“ im Internet.
       Wenige Tage nach dem Sturm auf das Kapitol fliegen er und seine Mutter nach
       Florida, um den Chef der Proud Boys zu treffen. Inzwischen ist die Familie
       auf Distanz gegangen. Die Mutter beschreibt ihren Sohn jetzt als
       unpolitischen jungen Mann, der Computerspiele macht und nicht von ihrer
       Seite weicht.
       
       In Kenosha ist der Versuch gescheitert, den weißen Polizisten Rusten
       Sheskey, der aus nächster Nähe sechs Kugeln in den Rücken des schwarzen
       [5][Jacob Blake] geschossen hat, wegen „übermäßiger Gewalt“ vor Gericht zu
       bringen. Nach einer Untersuchung hat Polizeichef Daniel Miskini auch von
       einem Disziplinarverfahren gegen seinen Beamten abgesehen. Sheskey ist
       längst wieder im Dienst. Blake, der vor dem Polizisten weggelaufen war, ist
       von der Hüfte abwärts gelähmt. Die Polizei sagt, er habe ein Messer gehabt.
       
       Anwälte in Wisconsin, wo der Prozess am Montag mit der Auswahl der
       Jurymitglieder beginnt, halten es für möglich, dass Rittenhouse sein
       Argument der Selbstverteidigung durchsetzen kann. In dem Fall könnte es
       passieren, dass er ausschließlich wegen illegalen Waffenbesitzes verurteilt
       wird, weil er zur Tatzeit noch minderjährig war. Dafür droht ihm eine
       Geldstrafe.
       
       31 Oct 2021
       
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