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       # taz.de -- Norbert Walter-Borjans über SPD-Vorsitz: „Es darf kein Kaputtsparen geben“
       
       > Norbert Walter-Borjans gibt den Posten des SPD-Chefs auf und schaut
       > zufrieden zurück. Die FDP warnt er vor einer Rückkehr zur
       > Austeritätspolitik.
       
   IMG Bild: Noch bis zum 10. Dezember SPD-Parteichef: Norbert Walter-Borjans
       
       taz am Wochenende: Herr Walter-Borjans, Sie haben sich entschlossen, nicht
       mehr zu kandidieren. Warum gerade jetzt? 
       
       Norbert Walter-Borjans: Die SPD ist wieder da. Sie hat wieder ein
       erkennbares Profil als Partei des sozialen und gesellschaftlichen
       Fortschritts. Sie arbeitet mit einer einigen Führung und starker Einbindung
       der Parteibasis. Ich habe das gute Gefühl, zu alldem einen ordentlichen
       Beitrag geleistet zu haben. Was gibt es Schöneres, als die Verantwortung im
       Augenblick des Erfolgs selbstbestimmt an Jüngere abzugeben, die jetzt für
       eine gute Fortsetzung sorgen können?
       
       Wie hat [1][Saskia Esken] reagiert? 
       
       Ich habe meine vorausgegangenen Überlegungen ja mit ihr geteilt. Deshalb:
       nicht überrascht, aber mit Bedauern.
       
       Sie will Parteichefin bleiben. Eine gute Idee? 
       
       Wir wollen dem Parteivorstand am Montag unseren Vorschlag unterbreiten. Ich
       bin sehr dafür, dass sie weitermachen will, unter anderem, weil sie eine
       wichtige Größe für den Erhalt der inneren Geschlossenheit in der Partei
       ist.
       
       Was haben Sie als SPD-Chef erreicht? 
       
       Mir war wichtig, dass die SPD nicht mehr als Verkäufer von
       Groko-Kompromissen wahrgenommen wird, sondern als Impulsgeber in die
       Koalition hinein. Saskia Esken und ich sind 2019 mit der [2][Forderung nach
       12 Euro Mindestlohn] noch skeptisch beäugt worden. Auch das klare
       Bekenntnis zu massiven Investitionen in Bildung, Infrastruktur und
       Klimaschutz gab es 2019 so noch nicht. Im Fall Thüringen haben wir
       unmissverständlich klargemacht, dass ein Ministerpräsident mit CDU-, FDP-
       und AfD-Stimmen ein Knackpunkt für die Koalition in Berlin gewesen wäre.
       
       Wir haben gegen teils heftigen Widerstand Nein zu von der Allgemeinheit
       bezahlten Rabatten für Verbrennungsmotoren gesagt und stattdessen auf
       Elektromobilität gesetzt. Heute hält die Autoindustrie unsere Haltung für
       richtig.
       
       Haben Sie die Partei verändert? 
       
       Ganz oben steht für mich der Zusammenhalt in der Partei. Wir hören uns zu,
       nehmen alle gleich ernst und reden in gegenseitigem Respekt miteinander.
       Deshalb hat bei Sitzungen keiner mehr das Handy unter dem Tisch und meint,
       sich per Tweet oder Indiskretion Luft verschaffen zu müssen, so wie wir es
       derzeit bei der CDU erleben. Es machte im Wahlkampf an der Basis Spaß, zu
       sehen, dass es keine Grüppchen gab, die gegenseitig mit dem Finger
       aufeinander gezeigt haben und gedacht haben: Wir sind die SPD, ihr nicht.
       
       Vorher war Hauen und Stechen – Sie haben die Partei befriedet? 
       
       Die Formulierung ist mir zu drastisch. Ich schätze an meiner Partei die
       Lust am Debattieren. Aber das darf nicht in persönlichen Verletzungen
       münden. Da haben die Führungsgremien eine Vorbildfunktion, der sie nicht
       immer gerecht geworden sind.
       
       Wie muss die neue SPD-Spitze sein? 
       
       Am liebsten weiterhin als unabhängiger sozialdemokratischer Impulsgeber.
       Dafür ist es wichtig, dass die SPD-Chefs nicht im Kabinett eines Kanzlers
       aus der eigenen Partei sind. Die Parteien sind fürs Profil zuständig. Die
       Kompromissfindung gehört in den Koalitionsausschuss und die Regierung.
       
       Ist das Konsens in der SPD? 
       
       Ja. Das sehen auch der künftige Kanzler und der Fraktionschef so.
       
       Das letzte Mal, als die SPD den Kanzler stellte, hat sie [3][Hartz IV]
       eingeführt. Viele haben das als Verrat empfunden. Woher die Gewissheit,
       dass das nicht wieder passiert? 
       
       Wegen der glasklaren Haltung von Olaf Scholz und der Parteispitze, dass die
       SPD in der Regierung von Anfang an so arbeiten wird, dass ihre
       Wähler*innen sich in ihrer Entscheidung vom 26. September bestätigt
       sehen.
       
       Im Wahlkampf 2002 war von der Agenda auch keine Rede gewesen. Sie kam
       später. 
       
       Uns allen stehen auch heute tiefgreifende Veränderungen bevor. Umso mehr
       kommt es darauf an, die Leute nicht zu überrumpeln, sondern zu überzeugen
       und zu unserem Sicherheitsversprechen zu stehen.
       
       Die Ampelparteien wollen ab 2023 die Schuldenbremse einhalten, 50
       Milliarden in Klima und Digitales investieren. Bürgergeld und
       Kindergrundsicherung werden Geld kosten. Aber es werden keine Steuern
       erhöht. Wie soll das gehen? 
       
       Die Schuldenbremse könnte nur mit einer Grundgesetzänderung reformiert
       werden, für die eine Zweidrittelmehrheit nötig wäre. Das würde schon an CDU
       und CSU scheitern. Entscheidend ist, dass alle drei Ampelparteien sich dazu
       bekennen, dass der Staat in Forschung, in Mobilität, Digitalisierung und
       Dekarbonisierung massiv investieren muss. Dafür gibt es auch im Rahmen der
       Schuldenbremse Spielraum. Zudem können bundeseigene Gesellschaften wie die
       KfW, die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben oder die Autobahngesellschaft
       notwendige Zukunftsinvestitionen mit Krediten finanzieren.
       
       FDP-Chef Christian Lindner hat in einer Talkshow „undemokratische
       Schattenhaushalte außerhalb des Bundeshaushaltes“ ausgeschlossen und
       Modelle wie die Autobahngesellschaft gemeint. Wird die Invesitionsoffensive
       der Ampel zur Farce? 
       
       Die Investitionsoffensive ist ein gemeinsames ehrgeiziges Ziel der drei
       Parteien. Ich bin sicher, dass auch die FDP die Digitalisierung und die
       Modernisierung der Infrastruktur will.
       
       Also nehmen Sie Lindner nicht ernst? Nur Talkshow-Gerede? 
       
       Ich verstehe den Einwand, dass keine Nebenstrukturen entstehen dürfen, die
       sich der Kontrolle des Haushaltsgesetzgebers entziehen. Aber dafür gibt es
       Lösungen.
       
       Ist der Job des Finanzministers zentral? 
       
       Ich war sieben Jahre Finanzminister in NRW. Ich weiß aus eigener Erfahrung,
       dass ein Finanzminister auch Sachzwänge erzeugen kann. Man kann selbst in
       einem engen Korsett viel ermöglichen. Aber man kann mit Hinweis auf die
       Haushaltslage auch viel einschränken.
       
       In der EU fürchten manche einen Finanzminister Lindner, der als
       Sparkommissar auftreten könnte. Verstehen Sie die Sorgen in Paris, Athen
       und Rom? 
       
       Wir haben im Sondierungspapier klar gesagt, dass wir den Europäischen
       Stabilisierungspakt flexibel handhaben wollen. Wir wollen ja alle gemeinsam
       eine wirtschaftlich starke EU und den Zusammenhalt in Europa stärken. Eine
       Wiederkehr der Austeritätspolitik, des Kaputtsparens der Schwächeren, darf
       es nicht geben, weil das allen schadet.
       
       Weiß die FDP das schon? 
       
       Mit Olaf Scholz als Finanzminister hatte die Kanzlerin bereits eine
       Kursänderung vorgenommen, die richtig bleibt. Besonders unsere
       Exportwirtschaft weiß, wie wichtig das für Arbeitsplätze und Gewinne in
       Deutschland ist. Es wäre fatal, dahinter wieder zurückzufallen.
       
       Warum wehrt die FDP sich so heftig gegen Steuererhöhungen für Reiche? 
       
       Das muss Ihnen die FDP erklären. Ich weiß nur, dass drastisch gestiegene
       Gewinne in der Vergangenheit nicht zu entsprechend größeren Investitionen
       der Privatwirtschaft geführt haben. Und der Trickle-down-Effekt, dass alle
       profitieren, wenn die Vermögenden noch mehr Geld verdienen, ist nicht meine
       Vorstellung vom Brückenschlag zwischen oben und unten.
       
       Was machen Sie nach dem SPD-Parteitag? 
       
       Erst mal Urlaub. Im Sommer werde ich mich endlich wieder meinem Hobby
       widmen, der Bildhauerei. Ich werde meiner Partei bestimmt nicht in
       Talkshows erzählen, was sie alles falsch macht, und vergiftete Ratschläge
       geben.
       
       7 Nov 2021
       
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