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       # taz.de -- Buch über Verschwörungserzählungen: Hitler in Frauenkleidern in Dublin
       
       > Außerhalb rationaler Diskurse: Der Historiker Richard J. Evans hat Wesen
       > und Inhalt von NS-Verschwörungstheorien untersucht.
       
   IMG Bild: Verschwörungstheorien haben wieder Konjunktur
       
       Schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs tauchten Gerüchte auf,
       Hitler sei – anders als es der deutsche Rundfunk offiziell gemeldet hatte –
       nicht in der Reichskanzlei gestorben. Die Berichte häuften sich in den
       folgenden Monaten, sodass sich das amerikanische FBI veranlasst sah, zu dem
       Fall eine Akte anzulegen.
       
       Darin hielten die Agenten fest, [1][Hitler sei von seinen eigenen Leuten im
       Tiergarten ermordet worden]; er sei mit einem U-Boot aus Deutschland
       entkommen, lebe auf einer nebelverhangenen Insel in der Ostsee, in einer
       Felsenfestung im Rheinland, in einem spanischen Kloster oder auf einer
       südamerikanischen Ranch beziehungsweise sei – laut der sowjetischen
       Nachrichtenagentur Tass – in Frauenkleidern in Dublin gesehen worden.
       
       Die FBI-Akte zeigt, wie schwierig es ist, die Lügen und Phantasien von
       Verschwörungsgläubigen wirksam zu bekämpfen, wenn diese sich auf scheinbar
       seriöse Quellen und Zeugen berufen.
       
       Der renommierte englische Historiker Richard J. Evans, bekannt geworden
       unter anderem durch seine Studien zum Nationalsozialismus, unternimmt den
       Versuch, die Verschwörungstheorien des „Dritten Reichs“ zu widerlegen, und
       er tut dies auf überzeugende Weise.
       
       ## Bekannte und beliebte Legenden
       
       Evans konzentriert sich auf die bekanntesten Legenden: Die sogenannten
       [2][„Protokolle der Weisen von Zion“], eine antisemitische Hetzschrift über
       eine angebliche jüdische Weltverschwörung; der Reichstagsbrand, den
       wahlweise die Kommunisten oder die Nazis organisiert hätten; der Flug von
       Rudolf Hess, dem „Stellvertreter des Führers“, nach Schottland 1941 sowie
       das Verschwinden Hitlers mit Eva Braun und Schäferhund Blondie aus dem
       Berliner Bunker 1945.
       
       Richard J. Evans holt in allen Fällen weit aus, er erläutert den
       historischen Kontext, setzt sich mit den Argumenten der
       Verschwörungstheoretiker auseinander, entkräftet deren angebliche Beweise
       und deckt die dahinterstehenden Motive auf, nämlich alternative Fakten zu
       schaffen, um die Geschichte des Nationalsozialismus umzuschreiben.
       
       Der Autor ist sich aber dessen bewusst, wie mühsam es ist,
       Verschwörungsmythen als Fantasieprodukte zu entlarven: „Tatsächlich liegen
       einige der Wirkungsmechanismen außerhalb der normalen Praxis rationaler
       Diskurse. Zunächst einmal sind sie selbstdichtend, das heißt, jede Kritik,
       bis hin zur Bloßstellung als Plagiat und Fälschung, wird mit der
       Unterstellung pariert, die Kritiker seien selbst Teil der Verschwörung.“
       
       Ohne dass Evans explizit darauf hinweist, drängen sich Parallelen zu den
       Verschwörungsmythen der Coronaleugner auf.
       
       ## Fakt und Komplott
       
       Fantastische Geschichten machen sich häufig an überraschenden, Aufsehen
       erregenden Ereignissen fest. Die Ermordung John F. Kennedys, der Absturz
       des polnischen Flugzeugs mit dem Präsidenten Lech Kaczyński an Bord oder
       der Tod Uwe Barschels in einer Genfer Hotelbadewanne boten Stoff für
       unzählige Vermutungen, abenteuerliche Spekulationen und ausgefeilte
       Hypothesen.
       
       Wenn alle Fakten für die Tat eines Einzelnen oder ein Unglück sprechen,
       sind dies aus der Sicht der Verschwörungstheoretiker erst recht Indizien
       für die perfekte Planung und Ausführung eines Komplotts; so im Fall des
       Reichstagsbrandstifters Marinus van der Lubbe, der – je nach politischer
       Richtung – als Werkzeug in den Händen von Kommunisten oder Nazis
       hingestellt wurde.
       
       Die Verschwörungstheorien im und über das „Dritte Reich“ ließen sich als
       fantastische und unterhaltsame, aber längst verstaubte Geschichten abtun,
       doch sie haben weiterhin Konjunktur. Evans weist darauf hin, dass zu
       Hitlers Flucht aus der Reichskanzlei mehr Bücher im 21. Jahrhundert
       erschienen sind als in den 55 Jahren davor.
       
       Im Internetzeitalter haben die Möglichkeiten zugenommen, die Grenzen
       zwischen Fakten und Fiktion zu verwischen und jede noch so bizarre
       Verschwörungstheorie zu verbreiten. Der Historiker könne dem nur, lautet
       Evans’ Fazit, sorgfältige, akribische Arbeit entgegensetzen. Sein Buch ist
       dafür ein vorzügliches Beispiel.
       
       8 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ende-des-Dritten-Reichs-vor-75-Jahren/!5682829
   DIR [2] https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/antisemitismus/protokolle-der-weisen-von-zion.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Otto Langels
       
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