URI: 
       # taz.de -- Negro Leo auf dem Jazzfest Berlin: Atlantische Diaspora
       
       > Brasilianische Künstler kommen zum diesjährigen Jazzfest in Berlin. Zu
       > ihnen gehört Negro Leo. Porträt eines umtriebigen Künstlers.
       
   IMG Bild: Der Musiker Negro Leo
       
       Sich dem Werk des Künstlers Negro Leo anzunähern ist keine leichte
       Angelegenheit. Freunde von ihm nennen das kreative Schaffen des
       Brasilianers ein „Minenfeld“ an Andeutungen, denen schwer zu folgen ist.
       Andere beschreiben den Sänger, Komponisten und Musiker als „Brunnen der
       Weisheit“. Eines ist klar: Negro Leo steht vielleicht wie kein Zweiter für
       den kaum verortbaren Sound des zeitgenössischen Undergrounds von São Paulo,
       dem bei dem [1][am Donnerstag (4.11.) beginnenden Jazzfest] (neben den
       Szenen Johannesburgs und Kairos) ein Schwerpunkt gewidmet ist.
       
       Es sind experimentelle Klänge, die über das klassische Liedformat
       hinausgehen, Künstler:innen, die sich dem freien Spiel hingeben. Kein
       Wunder also, dass Negro Leo [2][Charlie Parkers Livealbum „Bird is Free“]
       als prägendes Werk nennt. Die wichtigsten Einflüsse der Musik São Paulos,
       so schreiben die Jazzfest-Kurator:innen [3][Manoela Wright und Juliano
       Gentile], kämen „aus dem Ausland oder aus anderen Teilen des Landes, im
       Gegensatz zu Städten wie Rio de Janeiro, Salvador oder Recife, wo es eine
       starke lokale Tradition gibt“.
       
       Als Leonardo Campelo Gonçalves in Maranhão im Nordosten des Landes geboren,
       wuchs Negro Leo in der proletarischen Nordzone von Rio de Janeiro auf. In
       der Stadt tauchte er auch in die kleine, aber lebendige Noise-Pop-Szene
       rund um das Label Quintavant ein. Vor einigen Jahren zog er dann zusammen
       mit seiner Frau, der Sängerin Ava Rocha, nach São Paulo. Hier feilte er
       weiter an seinem vielschichtigen, oft dissonanten Werk, in dem Elektronik
       und akustische Instrumente miteinander kollidieren. Free Jazz greift er
       ebenso auf wie New Wave und Punk. Dabei geht er ziemlich produktiv zu Werke
       – zehn Alben hat Negro Leo in rund einem Jahrzehnt vorgelegt.
       
       ## Solidarisierung mit den Unterdrückten
       
       „Ich bin ein alter Vogel …der langsame Lauf eines alten Flusses … eine
       Chimäre aus den Quellen der Menschen“, singt er auf dem Album „Desejo de
       Lacrar“, veröffentlicht 2020. Wobei „lacrar“ ein Slangbegriff der
       LGBTQ-Szene ist und so viel bedeutet, wie frech und aufmüpfig sein. Dass er
       das durchaus in einem emanzipatorischen Sinne meint, zeigt schon sein Name:
       Negro Leo, der „Schwarze Leo“, wurde der Afrobrasilianer mit seinen
       markanten Locken zwar schon als Kind gerufen – doch ihn als Künstler
       beizubehalten ist eine bewusste Entscheidung in einem Land, in dem die
       Hautfarbe weiter der entscheidende Marker ist.
       
       Indem er das macht, solidarisiert sich der Negro Leo mit den unterdrückten
       Menschen in seiner Heimat. „In Brasilien müssen wir Schwarz werden“, hat
       Negro Leo einmal gesagt. „Wenn ich wir sage, meine ich damit die Nation.
       Und wenn ich Schwarz sage, meine ich alle Menschen, die nicht weiß sind.“
       
       Auch über die Musik hinaus ist der studierte Sozialwissenschaftler ein
       politisch denkender Mensch. Anfang des Jahres hat er etwa für die
       brasilianische Ausgabe des sozialistischen US-Magazins Jacobin darüber
       geschrieben, dass sich die Linke dringend mit dem [4][Siegeszug der
       Evangelikalen] auseinandersetzen müsse – deren Reichtum anbetende
       Wohlstandstheologie findet gerade bei ärmeren Afrobrasilianern große
       Zustimmung.
       
       An der [5][amtierenden Regierung Bolsonaro] lässt er kein gutes Haar: Sie
       habe viele, gerade ältere Menschen in der Pandemie „vorsätzlich“ sterben
       lassen, um die Sozialversicherung zu entlasten. Es sei aber „möglich und
       wünschenswert“, dass Bolsonaro die Wahlen im nächsten Jahr gegen
       Ex-Präsident Lula verliert und dieser seine integrative Sozialpolitik
       wieder aufnimmt.
       
       ## Offenheit und Spontaneität
       
       In Ermangelung besserer Termini wird Negro Leo als Musiker oft in die
       Post-Tropicália-Schublade gepackt oder auch in der Nachfolge des
       [6][„Manifesto Antropófago“] gesehen, das einst propagierte, alles aus dem
       Ausland zu schlucken und als etwas kulturell Neues wieder auszuspucken. Was
       daran bei aller Unschärfe stimmen mag, ist, dass der Kern von Negro Leos
       Kunst offen ist, von Spontanität geprägt. Er selbst lehnt diese
       Kategorisierung vehement ab: Was er mache, sei Musik der „atlantischen
       Diaspora“, pulsierend und polyrhythmisch und stamme aus Afrika. Punktum.
       
       Live trällert und scattet er jedenfalls häufig aus vollem Hals und hüpft
       dazu wie unter Strom hin und her. Manchmal klingt das dann – so beschrieb
       es ein Zuhörer –, als ob eine Bossa-Nova-Schallplatte mit einem Hammer
       traktiert werde. Es kommt auch vor, dass Negro Leo seinen Mitstreitern auf
       der Bühne zuruft: „Spielt aggressiver!“, bevor die Musik plötzlich abbricht
       und die Zuschauer:innen nicht genau wissen, ob sie klatschen sollen oder
       ob es doch noch weitergeht.
       
       Beim Jazzfest wird Negro Leo nur virtuell anwesend sein. In der Betonhalle
       des Silent Green wird eine von seiner Frau Ava gefilmte audiovisuelle
       Arbeit vorgestellt. Diese trägt den schön rätselhaften deutschen Titel
       „Schwarzfahren“. Wohin auch immer sie führt: Es dürfte eine aufregende
       Fahrt werden.
       
       2 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.berlinerfestspiele.de/de/jazzfest-berlin/start.html
   DIR [2] /100-Geburtstag-von-Charlie-Parker/!5704605
   DIR [3] https://www.berlinerfestspiele.de/de/jazzfest-berlin/programm/2021/berlin-sao-paulo/termine.html
   DIR [4] /Globale-Allianzen-der-neuen-Rechten/!5792401
   DIR [5] /100-Geburtstag-von-Charlie-Parker/!5704605
   DIR [6] /Gilberto-Gil-in-Hamburg/!5614803
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ole Schulz
       
       ## TAGS
       
   DIR Musik
   DIR Jazzfest Berlin
   DIR Brasilien
   DIR São Paulo
   DIR Free Jazz
   DIR Musik
   DIR Konzert
   DIR Jazzfest Berlin
   DIR Jazzfest Berlin
   DIR Brasilien
   DIR Brasilien
   DIR Jazz
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR US-Jazzmusikerin Esperanza Spalding: Im Labor wird gesummt
       
       Esperanza Spalding nutzt die Wissenschaft, um über die heilende Wirkung von
       Musik zu forschen. Sie ist aber auch eine spielfreudige Jazzmusikerin.
       
   DIR US-Freejazz-Trio spielt im Berliner KUZU: Tricks und Kicks mit Lärm
       
       KUZU, ein eruptives US-Jazz-Metal-Noisetrio gastierte am Montagabend im
       Club KM28 in Berlin-Neukölln. Aus wenig machen die drei Musiker sehr viel.
       
   DIR Jazzfest Berlin 2021: Schmissig-elegantes Zeug
       
       Das Jazzfest Berlin war auch in diesem Jahr international-vielfältig. Im
       Fokus standen Künstler:innen aus Johannesburg, São Paulo und Kairo.
       
   DIR Jazzdrummer Bennink über Trommelwirbel: „Die verdammten Spechte“
       
       Han Bennink ist beim Jazzfest Berlin zu Gast. Er blickt auf eine lange
       Karriere zwischen freier Improvisation und bildender Kunst zurück.
       
   DIR Musikland Brasilien: Einverleiben und verwandeln
       
       Neue Platten aus Brasilien zeigen, wie die Grenzen der Musikgenres
       verwischen: Samba wird mit Punk gepaart, Forró mit Rap und Grime mit Funk
       Carioca.
       
   DIR Wiederentdeckung von Walter Smetak: Seltsames mit magischen Kräften
       
       Die neu aufgelegten Alben des brasilianisch-schweizerischen Komponisten
       Walter Smetak offenbaren einen singulären Klangkosmos.
       
   DIR Jazzfest Berlin gestreamt: Ist Berlin doch eine Wolke?
       
       Weil vielen das Feeling von Livekonzerten fehlt, hatte das Jazzfest Berlin
       als Streamingevent ein großes Publikum. Der Rückblick.