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       # taz.de -- Volkswirt über Erbschaftsteuer: „Geld gewann gegen den Rechtsstaat“
       
       > Verfassungswidrige Privilegien bei der Erbschaftsteuer müssten
       > abgeschafft werden. Davon ist Volkswirt Gerhard Schick überzeugt.
       
   IMG Bild: Geld verdirbt den Charakter? Auf Millionärsmessen spielt das keine Rolle
       
       taz: Herr Schick, schützt das neue Ampelbündnis die Privilegien der
       Finanzeliten? 
       
       Gerhard Schick: Es sieht stark danach aus. Die Ampel würde – wie die
       Koalitionen vor ihr – wohl große Rücksicht auf die Interessen sehr
       wohlhabender Menschen nehmen. Die Steuergerechtigkeit bleibt so auf der
       Strecke.
       
       Die Schuldenbremse wird nicht angetastet, der Spitzensteuersatz ebenso
       wenig. Auch soll es keine neuen Substanzsteuern geben. Ist das
       finanzpolitisch sinnvoll? 
       
       Ich habe massive Zweifel, dass diese Gleichung aufgeht. Eigentlich bräuchte
       der Staat mehr Einnahmen. Wir benötigen mehr Spielraum für [1][staatliche
       Investitionen in Klimaschutz] und die Infrastruktur. Das sieht übrigens
       auch die Mehrheit der Ökonomen so. Die finanzpolitischen Leitplanken der
       Ampel sind falsch gesetzt. Aber ob an ein paar Stellen unsinnige
       Privilegien für Superreiche gestrichen werden, werden erst die
       Verhandlungen zeigen.
       
       Sie werben als Bürgerbewegung Finanzwende für die Umverteilung des
       gesellschaftlichen Reichtums. Warum? 
       
       Es gibt einen Korrekturbedarf, dem sich [2][die Ampel] nicht stellt. Gerade
       Ausnahmen für sehr reiche Menschen, welche die Gesellschaft jedes Jahr
       Milliarden kosten, müssen endlich abgeschafft werden. Durch die
       Niedrigzinspolitik der EZB sind die Werte von Aktien und Immobilien
       wahnsinnig nach oben geschossen. Vermögende haben in den vergangenen Jahren
       gigantische Gewinne gemacht, ohne etwas dafür zu tun. Diese Gewinne müssen
       zumindest konsequent besteuert werden. In den USA wird nicht ohne Grund
       über eine Sondersteuer für Milliardäre diskutiert.
       
       Die Ungleichheit in Deutschland ist hoch. Die obersten 10 Prozent besitzen
       zwei Drittel des Vermögens, die untere Hälfte besitzt fast nichts. Warum
       ist das ein Problem? 
       
       In Maßen ist Ungleichheit okay, sie gehört zu einer Marktgesellschaft dazu.
       Aber wenn über Jahre die Geldkonzentration am oberen Rand massiv zunimmt
       und die Reallöhne zurückgehen, können Menschen am unteren Rand ihre Kredite
       nicht mehr bedienen. Zu hohe Ungleichheit produziert also Finanzcrashs wie
       den im Jahr 2008. Außerdem hat es mit Leistungsgerechtigkeit nichts zu tun,
       wenn Menschen, die Glück bei der Geburtslotterie hatten, mit einem riesigen
       Startvorteil ins Rennen gehen.
       
       Gibt es noch andere Effekte von Ungleichheit? 
       
       Zu hohe Ungleichheit schadet der Demokratie. Das Kräfteverhältnis stimmt
       dann nicht mehr. Sehr wenige, sehr reiche Menschen können Politik in ihrem
       Sinne beeinflussen. Das beobachten wir in den USA, wo wenige Milliardäre
       einen großen Einfluss auf den Ausgang von Wahlen haben. Aber wir sehen
       solche Effekte auch in Deutschland, etwa bei der Erbschaftsteuer.
       
       Sie meinen die harte Lobbyarbeit von Verbänden gegen eine
       Erbschaftsteuerreform? 
       
       Ja. Die deutsche Politik duldet bei der Erbschaftsteuer seit 2006 einen
       skandalösen, nämlich verfassungswidrigen Zustand. Schwerreiche Firmenerben
       werden durch die Rechtslage massiv begünstigt. Wer eine
       Immobiliengesellschaft mit 3.000 Wohnungen erbt, zahlt weniger
       Erbschaftsteuer als jemand, der 3 Wohnungen erbt. Karlsruhe hat die
       Privilegien für reiche Menschen zwei Mal bemängelt, weil sie dem
       Gleichheitsgrundsatz in der Verfassung widersprechen.
       
       Die Merkel-Regierung hat die Erbschaftsteuer 2016 angepasst. Sie hat damals
       reagiert, oder? 
       
       Aber nicht ausreichend. [3][Die Privilegien sehr reicher Erben] sind vom
       damaligen Finanzminister Wolfgang Schäuble kaum beschnitten worden.
       Finanzstarken Lobbyverbänden gelang es, die öffentliche Debatte komplett zu
       drehen. Es stand nicht mehr die Verfassungswidrigkeit der Steuer im
       Vordergrund, sondern die Sorge um Arbeitsplätze.
       
       Der Verband der Familienunternehmer warnte etwa vor massiven Jobverlusten,
       wenn Unternehmen in ihrer Substanz besteuert würden. Die Steuer treffe das
       Betriebsvermögen, lautete das Argument. 
       
       Es gibt keinen Beleg dafür, dass durch eine faire Erbschaftsteuer bei einer
       Firmenübergabe Jobs verloren gehen. In heiklen Fällen wird die Steuerlast
       für die Erben einfach gestundet. Es war eine völlig faktenfreie Debatte,
       die mich verstört hat. Ich war damals ja noch Bundestagsabgeordneter der
       Grünen. Milliardäre waren stärker als das Verfassungsgericht. Das Geld
       gewann gegen den Rechtsstaat.
       
       Selbst der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann kämpfte 2016 für
       die Privilegien großer Familienunternehmen. Wie fanden Sie das? 
       
       Kretschmann und seine Leute kämpften 2016 eindeutig auf der falschen Seite,
       auch in Grünen-internen Runden. Deshalb konnten die Grünen in der Debatte
       nicht kraftvoll aufspielen. Für mich ging dadurch etwas kaputt, auch im
       Verhältnis zu Teilen meiner Partei. Nicht nur Union und FDP, auch
       Kretschmann ignorierte die Vorgaben des Verfassungsgerichts, aus Rücksicht
       auf das große Geld. Wenn aber das Grundgesetz für Politiker keine rote
       Linie mehr ist, was denn dann?
       
       Wenig später verließen Sie das Parlament, um eine NGO zu gründen. War die
       Debatte über die Erbschaftsteuer ein Grund für diese Entscheidung? 
       
       Sie war nicht der einzige, aber ein Grund, ja. Wenn Sie als Parlamentarier
       feststellen, dass die Verfassungsgrenze nicht eingehalten wird, dass Sie in
       einem Bergaufspiel gegen eine finanzkräftige Lobby sind, die völlig
       faktenfrei behaupten kann, was sie will, dann muss man das Spielfeld
       erweitern. Wir BürgerInnen müssen etwas tun, um den Rechtsstaat vor der
       Macht des Geldes zu schützen. Dafür ist eine NGO das richtige Instrument.
       
       Was fordern Sie von der Ampelkoalition? 
       
       Die Ampel muss die verfassungswidrigen Ausnahmen für sehr reiche Menschen
       bei der Erbschaftsteuer abschaffen.
       
       Warum sollte sie? Die FDP hat schon durchgesetzt, dass es keine
       Steuererhöhungen gibt. 
       
       Es geht nicht um eine neue Steuer, es geht um die Herstellung von
       Rechtsstaatlichkeit. Keine der drei Parteien kann den momentanen Zustand
       gegenüber ihrer Klientel rechtfertigen. Die FDP versteht sich als
       Rechtsstaatspartei, sie hat viele Jahre die Justizminister gestellt. Olaf
       Scholz’ SPD will die Partei der sozialen Gerechtigkeit sein und nicht die
       Partei des großen Geldes. Und die Grünen verweisen an anderer Stelle immer
       gerne auf Urteile des Verfassungsgerichts, etwa beim Klimaschutz.
       
       Ist das realistisch? SPD-Chef Walter-Borjans hat nach den Sondierungen eine
       Reform der Erbschaftsteuer gefordert, wurde aber zurückgepfiffen – auch von
       führenden Grünen. 
       
       Wenn Milliardäre bereit sind, ihr Geld für verfassungswidrige Privilegien
       einzusetzen, legen sie die Axt an den Rechtsstaat. Ein neuer
       Finanzminister, der seinen Amtseid ernst nimmt, darf die so entstandene
       Situation nicht akzeptieren. Das ist eigentlich eine
       Selbstverständlichkeit.
       
       3 Nov 2021
       
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