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       # taz.de -- Verschlusssache NSU: Die geheime Akte
       
       > Vor zehn Jahren flog der NSU-Terror auf. Hält der Verfassungsschutz dazu
       > bis heute etwas zurück? Eine geheime Akte schürt diesen Verdacht.
       
   IMG Bild: Die Opfer des NSU: Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic und Polizisten Michele Kiesewetter (oben, v.l.), sowie Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodorus Boulgarides, Mehmet Kubasik und Halit Yozgat (unten, v.l)
       
       Die Liste erstreckt sich über 150 Seiten. Die Rede ist von
       „Wehrsportübungen mit scharfen Waffen“ in einem Wald, von Schießtrainings
       hessischer Neonazis in der Schweiz oder Tschechien, von Hinweisen auf den
       Aufbau einer „Untergrundorganisation“, ein Sprengstoffdepot oder eine
       Waffenwerkstatt. Es ist eine Liste mit Hinweisen auf mögliche
       rechtsterroristische Aktivitäten in Hessen von 1992 bis 2012. Eine Liste,
       die eigentlich bis heute geheim bleiben sollte. Ursprünglich gar bis 2134.
       
       Denn diese Liste gehört zu einem internen Bericht des hessischen
       Verfassungsschutzes, der nach dem Auffliegen des NSU-Terrors am 4. November
       2011 – vor genau zehn Jahren – erstellt wurde. Er war das Ergebnis eines
       Prüfauftrags, ob im Landesamt nicht doch Hinweise auf den jahrelang
       unerkannten Terror des Nationalsozialisten Untergrunds übersehen wurden:
       auf die zehn Morde an neun migrantischen Gewerbetreibenden und einer
       Polizistin, die drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle. Ein Bericht
       von 2014, der für 120 Jahre als geheim eingestuft werden sollte.
       
       Der Bericht ist heute längst ein Politikum – und eine Chiffre für das
       Mauern des Verfassungsschutzes bei der Aufklärung des NSU-Terrors. Direkt
       nach der Selbstenttarnung ließ ein Mitarbeiter im Bundesamt für
       Verfassungsschutz Akten von Thüringer V-Leuten schreddern. Später klagten
       Untersuchungsausschüsse über nicht gelieferte oder geschwärzte Akten und
       Verfassungsschützer mit Erinnerungslücken. Für die größte Empörung sorgte
       zuletzt aber die [1][gesperrte Akte in Hessen]. Was hat das Amt zu
       verbergen?
       
       ## Vergebliche Forderung nach Veröffentlichung
       
       Der taz liegt nun der Geheimbericht vor, wenn auch mit einigen
       Schwärzungen. Die zentralen Ergebnisse aber liegen offen zutage – und sie
       stellen dem hessischen Verfassungsschutz ein verheerendes Zeugnis aus.
       
       Am 6. April 2006 erschossen die Rechtsterroristen in Kassel den 21-jährigen
       [2][Halit Yozgat] in dessen Internetcafé. Die Tat ist bis heute rätselhaft,
       denn vor Ort war auch ein hessischer Verfassungsschützer, [3][Andreas
       Temme]. Der will mit dem Mord nichts zu tun gehabt und diesen nicht mal
       bemerkt haben. Vor und nach der Tat telefonierte er aber mit V-Leuten,
       darunter einem Neonazi. Worüber, daran wollen sich beide nicht mehr
       erinnern. Der Fall bleibt bis heute nebulös.
       
       Auch deshalb forderte im Frühjahr eine [4][Petition] mit 134.000
       Unterzeichnenden die Offenlegung des hessischen NSU-Geheimberichts. Die
       Opferfamilien und die Öffentlichkeit hätten „ein Recht auf Aufklärung“.
       
       Der Landtag diskutierte die Petition, die schwarz-grüne Landesregierung
       aber blieb hart. Zwar hatte sie schon 2019, nach ersten Protesten, die
       Geheimhaltungsfrist auf 30 Jahre gesenkt. Eine sofortige Veröffentlichung
       aber sei aus rechtlichen Gründen nicht möglich, erklärte Hessens
       Innenminister Peter Beuth (CDU). Denn dies würde die Arbeit der
       Geheimdienste und die Sicherheit der V-Leute gefährden.
       
       Der Ursprung der Geheimakte liegt viele Jahre zurück. Als am 4. November
       2011 die NSU-Zelle aufflog, wurden auch im hessischen Landesamt hektisch
       Akten nach Hinweisen durchsucht. Der damalige [5][Innenminister Boris Rhein
       (]CDU) verordnete am 18. Juni 2012 schließlich eine systematische
       Aufarbeitung: Alle Akten der vergangenen 20 Jahre sollten noch einmal auf
       NSU-Bezüge geprüft werden.
       
       Es war ein Kraftakt: 123.500 Akten mussten durchleuchtet werden, mehr als 1
       Million Blatt. Im Dezember 2013 legte das Landesamt dann einen ersten
       Bericht vor, ein knappes Jahr später die finale Version. Der Öffentlichkeit
       aber blieben beide Berichte unbekannt.
       
       Erst nachdem die Linke im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss auf den
       Bericht stieß und eine teilweise Veröffentlichung erstritt, wurde dessen
       Existenz bekannt. Auch der Ausschuss erhielt diesen, aber nur mit
       Schwärzungen. Und für die Öffentlichkeit ist er bis heute unter Verschluss.
       
       Der taz liegen nun beide Fassungen des Berichts vor. Die Erkenntnisse sind
       in der ersten Version auf 7 Seiten zusammengefasst, in der zweiten auf 17 –
       plus der langen Anhänge, die teils geschwärzt sind. Und dort heißt es: In
       den Verfassungsschutzakten hätten sich „keine Bezüge zu den
       Rechtsterroristen des NSU und ihren Straf- und Gewalttaten“ gefunden. Auch
       anderweitig habe sich kein „terroristisches Verhalten von
       Rechtsextremisten“ feststellen lassen. Jedoch: An späterer Stelle wird
       diese Entwarnung wieder einkassiert.
       
       ## 30 Hinweise zum NSU-Trio
       
       Zum NSU-Trio stießen die hessischen Aktenprüfer durchaus auf 30 Hinweise.
       Diese seien aber bereits bekannte, abgeklärte Sachverhalte gewesen, heißt
       es. Dazu gehörten etwa eine Meldung zu einem angeblichen „Kennverhältnis“
       des hessischen NPD-Funktionärs Stefan Jagsch zu Beate Zschäpe, zu Besuchen
       des Neonazis Kevin S. im „Braunen Haus“ in Jena, in dem auch der
       NSU-Waffenbeschaffer [6][Wohlleben] verkehrte, oder vermeintliche
       Überlegungen des Trios, bei der hessischen Szenegröße Manfred Roeder
       unterzukommen.
       
       Zum Fall Temme vermerkt der Bericht dagegen fast nichts – der Fokus liegt
       auf Hinweisen zur Neonaziszene.
       
       Dort aber dokumentiert der Bericht rund 380 Hinweise auf Waffen- oder
       Sprengstoffbesitz von hessischen Neonazis. Darunter auch Meldungen, in
       denen die Rede davon ist, „Zellen zu bilden“ oder besagte
       „Untergrundorganisation“ aufzubauen. Ob und wie diesen nachgegangen wurde,
       bleibt zumeist unklar. Die Entwarnung klingt hier bereits schal.
       
       Dazu finden sich in den Meldungen auch heikle Personalien. So taucht etwa
       der Kasseler Neonazi [7][Stephan Ernst] gleich elfmal auf – er wird später
       zum Mörder von Walter Lübcke. Oder Benjamin Gärtner, auch aus Kassel und
       V-Mann des Landesamts – jener Spitzel, mit dem Andreas Temme am Mordtag von
       Halit Yozgat telefonierte. Hier notiert der Bericht, dass Gärtner im
       Oktober 2001 eine Demonstration des Thüringer Heimatschutzes in Eisenach
       besuchte, zu dem auch Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe gehörten. Auch soll er
       über einen Bekannten weitere Kontakte nach Thüringen und zu [8][Blood &
       Honour] haben. Wurde dem nachgegangen? Hatte Gärtner NSU-Bezüge? Der
       Bericht lässt es offen.
       
       Tatsächlich räumt das Amt ein, dass es vor dem NSU-Auffliegen schwere
       Mängel in der eigenen Arbeit gab. So herrschte in der damaligen Abteilung
       „Beschaffung“, die V-Leute führt oder Observationen leitet, Chaos bei der
       Aktenführung. Zu ein und derselben Person seien teils bis zu 15
       Aktenzeichen geführt worden, heißt es. Zudem sei „eine große Menge an nicht
       registriertem Material“ aufgefunden worden. Letztlich konnte der Verbleib
       von 541 Aktenstücken nicht geklärt werden.
       
       Eine „abschließende Sicherheit“, dass es in Hessen keine weiteren
       NSU-Bezüge gab, lasse sich deshalb „nicht ableiten“, konstatiert der
       Geheimbericht. „Dies wäre nur durch eine Sichtung der nicht auffindbaren
       Aktenstücke möglich.“ Es ist dieser Punkt, an dem auch der Bericht seine
       anfängliche Entwarnung wieder abräumt.
       
       Tatsächlich ist es gut möglich, dass Aktivitäten und Kontakte der
       NSU-Terroristen in Hessen schlicht nicht entdeckt wurden. So räumt das
       Landesamt ein: Nach Hinweisen erfolgten „häufig weder Nachfragen bei
       Quellen noch wurde versucht, den Sachverhalt durch ergänzende Informationen
       anderer Behörden zu verifizieren oder in einen Gesamtzusammenhang zu
       stellen“.
       
       Selbst bei Meldungen zu einem „nationalen Untergrund“ wurden Bewertungen
       „zumindest nicht dokumentiert oder waren gegebenenfalls tatsächlich nicht
       erfolgt“. Auch „zahlreiche Hinweise auf Waffenbesitz von Rechtsextremisten“
       seien „zum Zeitpunkt des Informationsaufkommens in der Regel nicht
       bearbeitet worden“. Generell wurde „interessanten Hinweisen nicht immer
       konsequent nachgegangen“. Es ist ein Offenbarungseid.
       
       Der hessische [9][NSU-Untersuchungsausschuss] fällte zu dem Geheimbericht
       im Juli 2018 ein deutliches Urteil: Es sei festzuhalten, dass dem Landesamt
       „Hinweise vorlagen, die auf einen Zusammenhang mit dem NSU-Trio
       hindeuteten, ohne dass mit diesen Hinweisen sachgerecht umgegangen worden
       wäre“. Es sei damit „nicht eindeutig geklärt“, ob sich unter den
       verschwundenen Aktenstücken auch welche mit Hinweisen auf Böhnhardt,
       Mundlos und Zschäpe fanden. Für die Linke machte der Bericht vor allem
       eines klar: „eine Vielzahl gravierender Fehler und Versäumnisse des LfV im
       Kampf gegen Rechtsterrorismus“.
       
       4 Nov 2021
       
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