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       # taz.de -- Morde an Journalist:innen: Erschreckend perfekte Verbrechen
       
       > Wer Journalist:innen tötet, wird selten verfolgt, geschweige denn
       > verurteilt. Ein Völkertribunal soll das ändern.
       
   IMG Bild: Auf Malta wurde die Journalistin Daphne Caruana Galizia 2017 getötet
       
       Acht von zehn. Neun von zehn. Irgendwo dazwischen liegt – nein, nicht die
       Aufklärungsquote – sondern die Quote derer, die davonkommen, bei Morden an
       Journalist:innen. Acht von zehn Fällen bleiben weltweit ungeahndet, „De
       facto Immunität“ nennt das Christoph Deloire, Direktor von Reporter ohne
       Grenzen. [1][Vor allem außerhalb von Kriegsgebieten würden
       Journalist:innen meist getötet, weil sie die Mächtigen stören], erklärt
       Nadim Houry, Menschenrechtsanwalt und lange für Human Rights Watch tätig.
       
       Normalerweise werden Straftaten dort verhandelt, wo sie geschehen. Aber
       nicht jeder Staat hat ein Interesse daran, aufzuklären, was geschehen ist –
       vor allem dann nicht, wenn Regierungen selbst involviert sind. Ein
       gemeinsames Projekt der Organisationen Free Press Unlimited, Committee to
       Protect Journalists und Reporter ohne Grenzen will diese Lücke füllen.
       „Safer World For The Truth“ heißt die neue Initiative, die die
       Aufklärungsrate bei Morden an Journalist:innen weltweit verbessern
       soll.
       
       Da ist etwa der Fall von Nabil al-Sharbaji, einem jungen Journalisten und
       Aktivisten, der im Februar 2012 von syrischen Sicherheitskräften verhaftet
       wurde. Das Militärgefängnis, in dem al-Sharbaji zuletzt festgehalten wurde,
       liegt etwa 45 Autominuten nördlich von Damaskus, in Sadnaya. Irgendwo, in
       diesem umzäunten Gelände in einer staubigen Ebene, wurde al-Sharbaji 2015
       ermordet. Von Soldaten des Staates, der – in der Theorie – auch seinen Tod
       aufklären müsste. Bis heute gibt es keine Ermittlungen, keine Anklage, kein
       Urteil.
       
       Die Idee einer unabhängigen Instanz dieser Art zur Ermittlung von
       Verbrechen in Kriegs- und Konfliktgebieten ist nicht neu. 1966 etwa
       gründete der Literaturnobelpreisträger Bertrand Russell das
       Russell-Tribunal, um die von den USA begangenen Kriegsverbrechen in Vietnam
       zu untersuchen – eine Art Gericht, dessen Entscheidung rechtlich nicht
       bindend ist, das aber frei ermitteln kann.
       
       ## Morde, die hätten verhindert werden können
       
       Die dauerhafte Fortsetzung dieses Projekts ist das Permanente
       Völkertribunal, dieses wird nun von „A Safer Project For The Truth“ damit
       beauftragt, die Morde an drei Journalisten zu verhandeln. Der
       Eröffnungsveranstaltung in Den Haag folgen im Frühling 2022 je ein
       Verhandlungstag pro Fall und ein Abschlusstribunal.
       
       Neben dem Fall Nabil al-Sharbaji soll der Tod von Lasantha Wickrematunge
       verhandelt werden, eines sri-lankischen Journalisten, 2009 auf offener
       Straße erschossen. Der damalige Verteidigungsminister und heutige
       Premierminister Mahinda Rajapaksa wird verdächtigt, an Wickrematunges Tod
       beteiligt gewesen zu sein. Die Ermittlungen wurden verschleppt, 2015
       wiedereröffnet, pausierten 2018. Verhandelt wird auch der Tod von Miguel
       Ángel López Velasco, 2011 in seinem Haus in Mexiko erschossen. Die Polizei,
       nur einen Block entfernt stationiert, habe nicht einmal eine Streife
       vorbeigeschickt, berichtet etwa die Deutsche Welle.
       
       Auch wer nicht selbst tötet, keine:n Auftragsmörder:in anheuert, sei
       mitschuldig, sagt Caoilfhionn Gallagher, wenn man ein Klima ermögliche, in
       dem Drohungen oder Gewalt gegen Journalist:innen kaum geahndet werden.
       Die Menschenrechtsanwältin vertrat unter anderem die Familie [2][der
       maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia, die 2017 durch eine
       Autobombe ermordet wurde]. Ihrem Tod gingen 30 Jahre
       Einschüchterungsversuche voraus: Brandstiftung, eine Attacke gegen ihr
       Haustier, mehrere Verleumdungsklagen. „Ihr Tod war vollkommen vermeidbar“,
       ist sich Gallagher sicher. Denn die Attacken gegen Galizia hätten kein
       Nachspiel gehabt. Der Staat habe ihre Feinde konsequenzlos immer weiter
       eskalieren lassen. Bis zum ultimativen Ende.
       
       Mit dem Finger auf die nachlässige oder sogar verwickelte Judikative,
       Exekutive, Legislative zeigen; ganz deutlich und öffentlich machen: „Hier
       gibt es ein riesiges, schmutziges Problem“: das ist das Ziel des Tribunals.
       Gerechtigkeit im rechtlichen Sinne schaffen können hingegen nach wie vor
       nur die Staaten selbst.
       
       4 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Lisa Schneider
       
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