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       # taz.de -- Corona in Großbritannien und Deutschland: „Freedom Day“ für Corona
       
       > Die Coronalage im Vereinigten Königreich spitzt sich weiter zu. Sie gibt
       > einen Vorgeschmack auf das, was sich jetzt auch in Deutschland andeutet.
       
   IMG Bild: Die Zahlen der an Corona erkrankten Briten steigt unaufhaltsam
       
       Die Warnungen vor einer erneuten Eskalation der Coronapandemie in
       Großbritannien hätten kaum deutlicher sein können. Als der britische
       Gesundheitsminister Sajid Javid am Donnerstag vor die Presse trat,
       verteidigte er zwar, dass die Regierung unter Boris Johnson weiter am
       sogenannten Plan A festhalten will.
       
       Der beschränkt sich für den Winter auf Impfangebote sowie die freundliche
       Bitte an die Bevölkerung, weiterhin Masken zu tragen und Hygieneregeln
       einzuhalten. Javid machte aber auch unmissverständlich klar, womit das
       Königreich zu rechnen hat, wenn sich das Coronavirus weiter ausbreitet wie
       bisher. Derzeit meldet Großbritannien rund 50.000 Neuinfektionen täglich.
       Laut Javid könnten es bald 100.000 sein.
       
       Die düstere Prognose wird von Zahlen gestützt, die seit Monaten vornehmlich
       eine Richtung kennen: nach oben. So kletterte die 7-Tage-Inzidenz von
       einem Wert von unter 20 im Mai auf gut 500 im Juli. Johnson hob dennoch am
       19. Juli mit einem [1][sogenannten Freedom Day] alle Kontaktbeschränkungen
       und die Maskenpflicht für die Briten auf, mit dem Ergebnis, dass die
       Inzidenz nach kurzer Erholung nun fast wieder den gleichen Wert erreicht
       hat – und weiter stark zunimmt.
       
       Etwas zeitverzögert, aber dennoch parallel steigen auch die Zahlen der
       Krankenhauseinweisungen und coronabedingten Todesfälle. Sie erreichen keine
       so hohen absoluten Ziffern mehr wie zu Beginn der Impfkampagne, als täglich
       mehr als 1.200 Briten ihr Leben an das Virus verloren. Doch trotz der
       umfangreichen Impfangebote gibt es zehn Monate später wieder rund 1.000
       Coronatote pro Woche. Bald könnten es doppelt so viele sein.
       
       ## Spahns gefährlicher Vorstoß
       
       Lässt sich diese Entwicklung noch verhindern, ohne zumindest teilweise die
       Lockerungen wieder zurückzunehmen, Versammlungsbeschränkungen,
       Maskenpflicht und Homeoffice wieder auf den Tisch zu bringen? Die Frage
       ist nicht nur für die Brit:innen von Interesse, denn eine eskalierende
       Lage lässt sich derzeit in zahlreichen Ländern Europas beobachten. Seit
       einigen Tagen nimmt auch in Deutschland die Zahl der Neuinfektionen wieder
       deutlich zu.
       
       Angesichts einer noch immer übersichtlichen Impfquote von rund 65 Prozent,
       die von den Briten übrigens nur knapp übertroffen wird, und rund 26
       Millionen komplett ungeschützten Bürger:innen ist mit einer erneut
       wachsenden Zahl von Krankenhauseinweisungen und auch Coronatoten zu
       rechnen. Zumal Bundesgesundheitsminister [2][Jens Spahn (CDU) bereits am
       Mittwoch angekündigt] hat, die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“,
       die schnelle Maßnahmen und einheitliches Handeln im Bund ermöglicht, nicht
       weiter zu verlängern.
       
       SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach wirft Spahn auf Twitter vor, der
       deutschen Bevölkerung einen Freedom Day in Aussicht zu stellen. Dass dieser
       dazu beigetragen hat, die Lage im Vereinigten Königreich wieder massiv zu
       verschärfen, ist unstrittig. Das Virus braucht geschlossene Räume,
       ungeschützte Gesichter und körperliche Nähe, um sich verbreiten zu können.
       Der Freedom Day hat dem Erreger genau das gegeben.
       
       Corona-Impfungen dagegen können die Bevölkerung nur schützen, wenn mehr als
       90 Prozent der Menschen vollständig immunisiert sind. Dann zirkuliert das
       Virus zwar weiter, denn das Vakzin verhindert keine Ansteckungen. Doch das
       Risiko, sich zu infizieren und dann auch noch schwer zu erkranken, sinkt
       für alle drastisch.
       
       ## Inzidenz noch immer guter Indikator
       
       Javids Aufruf vom Donnerstag, die britische Bevölkerung solle sich durch
       Auffrischungsimpfungen besser schützen, ist deshalb durchaus als
       irreführend zu bezeichnen. Die sogenannten Booster erhöhen die Impfquote
       nicht und sind für Menschen über 70 zwar sinnvoll, aber nicht für die
       gesamte Bevölkerung. Das hat letztens auch eine Studie der Berliner Charité
       gezeigt.
       
       Wie in Großbritannien ist es der Regierung in Deutschland durch
       Impfangebote und Appelle bisher nicht gelungen, die Impfquote auf die
       erforderlichen 90 Prozent zu bringen. Lauterbach mahnt deshalb an, die
       Inzidenz niedrig zu halten. Sie gilt zwar nach einer Entscheidung im
       September nicht mehr als Maßstab zum Handeln in der Pandemie.
       
       Dennoch zeigt das Beispiel Großbritannien, dass die 7-Tage-Inzidenz noch
       immer zuverlässig und viel früher als etwa [3][die Hospitalisierungsrate]
       zeigt, mit welchen Coronafolgen zu rechnen ist. Steigt die Inzidenz stark,
       gibt es auch mehr Fälle auf Intensivstationen – und mehr Tote.
       
       Mittelmäßige Impfquoten oder Booster haben wenig Einfluss auf die Inzidenz,
       einheitliche Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen und Maskenpflicht dagegen
       schon. Sollte Spahn sich kurz vor Ende seiner Amtszeit dennoch durchsetzen,
       wird es auf die Länder ankommen, ein britisches Szenario aufzuhalten. Dann
       könnten auch Schulschließungen wieder ein Thema werden. Sie waren von
       zahlreichen Politiker:innen auf Bundes- und Länderebene zu Beginn der
       Schuljahres noch ausgeschlossen worden.
       
       21 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Kathrin Zinkant
       
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