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       # taz.de -- Anti-Abschiebeaktivist über Ehrung: „Uns geht es nicht um Integration“
       
       > Mohammed Jouni kämpft mit anderen jungen Geflüchteten gegen Abschiebung.
       > Am Montag bekommt er dafür das Bundesverdienstkreuz – und wundert sich.
       
   IMG Bild: Protestplakat von Jugendliche ohne Grenzen bei der Innenministerkonferenz im Juni 2018
       
       taz: Herr Jouni, freuen Sie sich über die Auszeichnung? 
       
       Mohammed Jouni: Ich freue mich, und gleichzeitig sträubt sich auch etwas in
       mir.
       
       Warum? 
       
       Wenn man unter anderem dafür ausgezeichnet wird, dass die diskriminierenden
       und rassistischen Strukturen in Deutschland es nicht geschafft haben, einen
       zu brechen: Was sagt das denn über das Versprechen der Chancengleichheit,
       der Bildungsgerechtigkeit in diesem Land aus? Wenn es so wäre, dass hier
       alle gleich partizipieren können, dann bräuchte es eine solche Ehrung
       nicht.
       
       Sie sind 1998 mit 12 Jahren als Geflüchteter ohne Ihre Familie aus dem
       Libanon gekommen und heute Sozialarbeiter und Mitgründer einer
       Selbstorganisation junger Geflüchteter. Sind Sie nicht stolz? 
       
       Ich freue mich über die Auszeichnung, das soll keine falsche Bescheidenheit
       sein. Bescheidenheit ist ja auch kein Wert, mit dem man in dieser
       superkapitalistischen Gesellschaft weiterkommt, die einem immer beibringt,
       man müsse der Größte, der Klügste, der Schönste, der Selbstbewussteste
       sein. Aber ich habe mit dem Wort Stolz Schwierigkeiten, zum einen, weil in
       der Erziehung in meiner Familie Bescheidenheit ein wichtiger Wert war, zum
       anderen, weil ich dabei sofort an Nationalstolz denke: Stolz auf etwas, für
       das man gar nichts kann. Ich bin schon stolz darauf, dass ich als Erster in
       meiner Familie Abitur gemacht und studiert habe. Ich weiß, dass ich oft
       Glück gehabt habe. Aber ich habe auch Chancen ergriffen, wenn sie sich mir
       boten. Mir wurde als Geflüchtetem hier nichts geschenkt.
       
       Sie bekommen die Auszeichnung auch für Ihre politische Arbeit mit der
       Selbstorganisation [1][Jugendliche ohne Grenzen (JoG)], die sich für ein
       Bleiberecht für alle und menschenwürdige Behandlung Geflüchteter einsetzt. 
       
       Es ist ja fast ein bisschen absurd, Menschen zu ehren, die dieser
       Gesellschaft den Spiegel vorhalten, darauf hinweisen, was hier schiefläuft
       – und mit dieser Politik dann trotzdem weiterzumachen. Ich lebe seit 23
       Jahren in einem Staat, der abschiebt, der strukturelle und institutionelle
       Rassismen reproduziert, der Menschen in Lagern unterbringt, der geflüchtete
       Kinder gesondert beschult – und der jetzt Menschen ehrt, die sich dagegen
       einsetzen. Ich denke: Hört doch einfach damit auf, Flucht zu illegalisieren
       und Geflüchtete zu kriminalisieren. Wenn ihr wirklich eure europäischen
       Werte leben würdet, bräuchten wir solche Ehrungen nicht.
       
       Sie bekommen diese Ehrung auch dafür, dass JoG tatsächlich politisch
       gewirkt hat: etwa bei der [2][Altfallregelung], die ab 2007 vielen lange
       hier lebenden Geflüchteten aus dem Duldungsstatus zu besseren
       Aufenthaltsgenehmigungen verhalf. 
       
       Wenn uns, als wir 2004/2005 mit JOG angefangen haben und politisch etwas
       verändern wollten, jemand gesagt hätte, dass wir tatsächlich etwas
       erreichen würden, hätten wir das wohl als Träumerei abgetan. Ich glaube,
       das war damals wirklich revolutionär, dass betroffene Jugendliche sich für
       ihre eigenen Rechte eingesetzt haben. Dass wir daran mitwirken konnten,
       dass so viele Tausende zu ihrem Recht kamen, hierzubleiben, das war schon
       toll und hat uns motiviert, weiter für unser eigentliches Ziel, ein
       Bleiberecht für alle, einzustehen.
       
       Woher hatten Sie damals den Mut, JoG zu gründen? 
       
       Wir, meine Mitstreiter:innen und ich, brauchten damals einen Raum, um
       unsere Erfahrungen auszutauschen, um zu verstehen, dass wir keine
       Einzelkämpfer, nicht schuld an unserer Lage sind. Dass es nicht unser
       Schicksal ist, benachteiligt und diskriminiert zu werden, dass das nicht
       normal ist, sondern dahinter politische Entscheidungen stehen. Dass an uns
       nichts falsch ist. Den Raum hatten wir im [3][BBZ] …
       
       … einer Beratungseinrichtung für junge Geflüchtete in Moabit, wo Sie jetzt
       selbst als Sozialarbeiter tätig sind. 
       
       Genau. Deshalb war mein erster Gedanke, als ich den Brief mit der
       Ankündigung der Ehrung geöffnet habe, dass die eigentlich Walid Chahrour
       gebührt, dem Leiter des BBZ. Er hat uns unterstützt und motiviert, uns
       gezeigt, dass wir nicht alleine sind, dass wir uns zusammentun müssen.
       
       Wie ging das? 
       
       Hier habe ich zum ersten Mal in meinem Leben offen darüber gesprochen, wie
       es ist, in einem Heim zu leben, wo es stinkt, wo es laut ist, wo die
       Polizei früh morgens kommt und Leute abholt, die schreien und weinen. Das
       war viel zu schambehaftet, um mit Freund:innen darüber zu reden. Aber
       hier war das normal, die anderen Jugendlichen hatten die gleichen
       Erfahrungen. Und plötzlich war es auch normal, in Utopien zu denken, sich
       zu sagen: Ich habe als Subjekt das Recht, mir einen guten Job zu wünschen,
       eine schöne Wohnung, ein gutes Leben, anständige Behandlung.
       
       Das klingt nach der guten alten Integration. 
       
       Nein! Im BBZ habe ich auch begriffen, dass das Ziel eben nicht Integration
       heißt. Ich muss mich nicht in eine rassistisch strukturierte Gesellschaft
       einfügen, sie akzeptieren und reproduzieren. Uns ging und geht es nicht
       darum, „integrierte“, gut ausgebildete, brauchbare Jugendliche zu werden,
       sondern darum, dass alle Menschen, die hier leben, ein Bleiberecht bekommen
       – egal, ob sie für diese kapitalistische Gesellschaft brauchbar oder ob sie
       alt oder krank sind oder kein Deutsch können, weil sie jahrelang in Lagern
       gelebt haben. Deshalb bleiben wir auch dran. Ich verstehe diese
       Auszeichnung als eine für uns alle. Deshalb habe ich sie auch nicht
       abgelehnt.
       
       8 Nov 2021
       
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