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       # taz.de -- Erben in Deutschland: 20.000 Euro für alle
       
       > Die ungleiche Verteilung von Erbschaften ist unsozial, schadet aber auch
       > der Idee der Leistungsgerechtigkeit. Ein Staatserbe für alle wäre die
       > Lösung.
       
   IMG Bild: Beim Gesellschaftserbe bekäme jede*r 21-Jährige 20.000 Euro vom Staat
       
       Ja, ich habe geerbt. Keine Milliarden oder Millionen, aber ausreichend, um
       mir eine Wohnung kaufen zu können. Auch mit meinem „kleineren“ Erbe spüre
       ich im Leben bereits einen großen Unterschied. Ein Erbe gibt finanzielle
       Sicherheit. Es spannt ein Sicherheitsnetz. Für meine Generation jedoch, die
       Generation Y, ist es schwierig, abseits eines Erbes Vermögen aufzubauen.
       Gefangen zwischen [1][steigenden Mieten], befristeten Verträgen und
       Familiengründungen bleiben die allermeisten jungen Menschen finanziell
       stecken. Dabei werden die Vermögen bei wenigen immer größer. Nur sind diese
       meist leistungslos geerbt.
       
       Dieses Missverhältnis nimmt mittlerweile groteske Züge an. In den
       zurückliegenden zehn Jahren ist die Höhe der durchschnittlichen Erbschaft
       von 72.000 auf 85.000 Euro gestiegen. Parallel dazu hat sich aber auch die
       Ungleichheit unter den Erben erhöht. [2][10 Prozent der Erben erhalten die
       Hälfte aller Erbschaften und Schenkungen]. Die anderen 90 Prozent teilen
       sich die restliche Hälfte. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
       (DIW) schätzt die Höhe der jährlichen Schenkungen und Erbschaften auf
       atemberaubende 400 Milliarden Euro.
       
       Diese Zahlen zeigen, dass wir mittlerweile eine gesellschaftliche
       Schieflage erreicht haben, in der wir in das System Erbschaft eingreifen
       müssen. Wir haben uns von der sozialen Marktwirtschaft, von der
       Leistungsgesellschaft und vom Aufstiegsversprechen zugleich verabschiedet.
       Es gibt keinen Grund, an diesem System noch länger festzuhalten – und es
       ist unerklärlich, warum wir nicht bereits längst eingegriffen haben. In den
       derzeitigen Koalitionsverhandlungen spielt das Thema offenbar keine Rolle.
       Mit dem FDP-Mantra, Steuererhöhungen auszuschließen, ist das Thema
       anscheinend abgeschlossen.
       
       Dabei ist dieses Mantra eine intellektuelle Weigerung, nachzudenken. Das
       Erben in seiner jetzigen Form entfernt unsere Gesellschaft immer weiter vom
       liberalen Grundgedanken. Wir sind auf dem Weg in eine Gesellschaft, in der
       die Abstammung über die Zukunft entscheidet. [3][Dabei ist Deutschland
       bereits heute eines der ungleichsten Länder Europas], in keinem anderen
       Land ist die Vermögensungleichheit so festbetoniert wie bei uns. Das
       Vererben scheint mit dem in der Verfassung festgeschriebenen Prinzip des
       Sozialstaats kaum noch vereinbar, vielmehr scheint es die Entwicklung zu
       einer Feudalgesellschaft zu fördern, die sich an das Gestrige klammert –
       und trotzdem wird beharrlich daran festgehalten.
       
       Diese Entwicklung sollte eines der zentralen Themen bei den
       Koalitionsverhandlungen sein. Beim Thema Erben trifft die soziale auf die
       liberale Idee: Erben ist ein Prinzip, das dem Grundgedanken der SPD –
       soziale Gerechtigkeit –, aber auch der FDP – individuelle Leistung soll
       sich lohnen – widerspricht. Kaum ein anderes Thema eignet sich so gut, um
       ökonomisch den großen sozialliberalen Wurf zu versuchen. Die FDP müsste
       sich nur von ihrem hartnäckigen Steuermantra verabschieden.
       
       So könnten die Parteien ein Gesellschaftserbe einführen. Junge Menschen im
       Alter von 21 Jahren bekommen 20.000 Euro vom Staat vererbt. Dieses Geld
       dürfen diese für Ausgaben in Ausbildung, Wohneigentum oder die Gründung
       eines Unternehmens verwenden. Zur Finanzierung der Maßnahme wird die Steuer
       auf große Erbschaften und Schenkungen erhöht. Mit diesem Schritt würden
       sich für viele junge Leute neue Chancen eröffnen. Sie erhalten in einer für
       sie entscheidenden Phase des Lebens finanzielle Möglichkeiten: Sie bekommen
       die Möglichkeit, Praktika zu absolvieren, eine Ausbildung oder ein Studium
       zu starten oder das Geld einfach zu investieren. Das Gesellschaftserbe
       würde das Leben vieler junger Menschen entscheidend verändern.
       
       ## Eltern entscheiden über die Zukunft
       
       Mein eigenes Beispiel zeigt das: In der Schule war ich ein schwacher
       Schüler. Mein Interesse an den meisten Schulfächern war nur bedingt
       ausgeprägt. Ich war zwar physisch anwesend, aber geistig woanders.
       Dementsprechend fiel auch mein Notendurchschnitt aus. Am Ende haben sich
       meine Eltern jeden Tag hingesetzt und mit mir gelernt. Ich habe zusätzlich
       dazu Nachhilfeunterricht erhalten. Das Abitur habe ich mit einer immerhin
       mittelmäßigen Note geschafft.
       
       Ohne die familiäre Hilfe hätte mein schulischer Weg sicherlich anders
       ausgesehen. Mir wurden Auslandspraktika ermöglicht und auch mal Phasen, in
       denen man „nachdenkt“. Diese Möglichkeiten bekommen junge Leute nur mit
       einem gewissen finanziellen Puffer. Dieser ist oftmals entscheidend für die
       Zukunft. Das Gesellschaftserbe würde allen diesen Puffer geben. Das
       Innovative an der Idee ist, dass sie Vertrauen in Menschen hat.
       
       Das DIW kalkuliert, dass ein solcher Schritt die Vermögensungleichheit
       deutlich stärker abbaut als beispielsweise [4][die viel diskutierte
       Vermögensteuer]. [5][Das Gesellschaftserbe kann die Vermögen der unteren
       Hälfte der Bevölkerung um 60 bis 90 Prozent steigen lassen.] Mit dieser
       Verschiebung kämen wir der gesellschaftlichen Idee der Eigenverantwortung
       wieder näher. Wir hätten zudem eine intergenerationelle Verschiebung von
       Vermögen an eine Generation, die kaum noch Wohlstand aufbauen kann. Für
       eine höhere Erbschaftsteuer ist zwar die Zustimmung des Bundesrats und
       damit parteipolitisch unterschiedlich regierter Länder nötig. Es sind hohe
       Hürden, aber keine unüberwindbaren für die neue Ampelkoalition.
       
       In vielen ökonomischen Fragen liegen die zukünftigen Koalitionäre
       auseinander – in Fragen der Zukunftsinvestitionen oder der Höhe der
       Staatsausgaben. Doch das Thema Erben und das Gesellschaftserbe haben das
       Potenzial, zu einem sozialliberalen Leuchtturmprojekt zu werden. Es wäre
       die Rückkehr zu einer sozialen Leistungsgesellschaft und zu den Prinzipien
       der sozialen Marktwirtschaft.
       
       Und es wäre eine Maßnahme, die sehr vielen jungen Menschen eine so wichtige
       Perspektive geben würde.
       
       9 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Linke-stimmt-fuer-Koalitionsverhandlungen/!5809861
   DIR [2] https://www.diw.de/de/diw_01.c.809832.de/publikationen/wochenberichte/2021_05_1/haelfte_aller_erbschaften_und_schenkungen_geht_an_die_reichsten_zehn_prozent_aller_beguenstigten.html
   DIR [3] https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-ungleichheit-deutschland-liegt-vorn-7345.htm?fbclid=IwAR27Fnnbn_zq_Bwz4KIKLo6hW6DQsnre6f7_29puUJhIP0CkwgG5EtM2RcI
   DIR [4] /Soziale-Ungerechtigkeit/!5809290
   DIR [5] https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/vermoegensteuer-und-ungleichheit-gebt-den-kindern-30-000-euro-startkapital-a-65d9264c-fd0d-4a23-9af0-e35f6b8e34f4
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Yannick Haan
       
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