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       # taz.de -- Kinotipp der Woche: In Sachen Popkultur
       
       > Das Musikfilmfestival Soundwatch zeigt Dokumentationen über Musikgenres,
       > Popstars, randständige popkulturelle Phänomene und viele coole Frauen.
       
   IMG Bild: Genesis P-Orridge und Cosey Fanni Tutti (1969), Still aus „Other, Like Me“ (GB/USA 2020)
       
       Schonmal von der amerikanischen Rockband Fanny gehört? Die war Anfang der
       Siebziger eine kleine Sensation. David Bowie gehörte zu ihren zahlreichen
       Fans und bis heute beziehen sich vor allem Musikerinnen auf sie. Doch im
       Großen und Ganzen erinnert sich kaum noch jemand an die Combo.
       
       Diese gilt als erste rein weiblich besetzte Rockband überhaupt, die von
       einer großen Plattenfirma unter Vertrag genommen wurde. Und wenn sie
       auftrat, mussten auch die Typen im Publikum zugeben: Du meine Güte, die
       können ja alle spielen wie die Teufelinnen.
       
       Aus der großen Karriere wurde dann trotzdem nichts. Wobei die ja noch
       kommen kann. Denn Fanny gibt es wieder. Und sie rocken immer noch. Wie
       sehr, das zeigt sich in der Doku “[1][Fanny – The Right To Rock]“, die im
       Rahmen der neuen Ausgabe des [2][Musikfilmfestivals Soundwatch] gezeigt
       wird.
       
       ## Frauen im Fokus
       
       Eine Woche lang werden hier wieder Dokumentationen über Musikgenres,
       Popstars und randständige popkulturelle Phänomene wie eben Fanny [3][im
       Lichtblick-Kino gezeigt]. Frauen in der Musik, das zeigt nicht nur der Film
       von Bobbi Jo Hart über die drei wackeren Damen von Fanny, werden in diesem
       Jahr besonders fokussiert.
       
       Ein Portrait der Punk-Ikone Lydia Lunch wird genauso gezeigt wie eines der
       Elektronik-Pionierin Delia Derbyshire. Und überhaupt wird verdeutlicht: die
       Pophistorie ist weiblicher, als man vielleicht immer noch denken mag.
       
       Das gilt auch für den Eröffnungsfilm des Festivals, für “[4][Other, Like
       Me: an Oral History of COUM and Throbbing Gristle]“ von Dan Fox & Marcus
       Werner Hed. Die Doku ist nicht nur die längst überfällige, endlich wirklich
       gute Einführung in das Schaffen und Wirken von Throbbing Gristle, der
       disruptivsten Band aller Zeiten.
       
       Sondern sie versucht, nicht einmal mehr Genesis P. Orridge als
       supercharsmatischen Leader in den Mittelpunkt zu rücken, sondern widmet
       sich ausgiebig Cosey Fanni Tutti und ihrem Beitrag zu Throbbing Gristles
       Radikalästhetik. Die Doku macht sich auch die Mühe, die lange Vorgeschichte
       der Band nachzuzeichnen.
       
       ## Beeinflusst von den Wiener Aktionisten
       
       Am Anfang war COUM Transmissions, eine Künstlergruppe Ende der Sechziger.
       Beeinflusst von den Wiener Aktionisten veranstalte sie Happenings, bei
       denen vor Publikum uriniert und sich nackt auf dem Boden herumgewälzt
       wurde. Dann kam Cosey Fanni Tuttis Pin-Up- und Pornophase, ein neuer Weg,
       sich selbst und die Machtverhältnisse zwischen sich und ihren Betrachtern
       zu erforschen, wie sie sagt.
       
       Das Footage der Doku ist exzellent. Man sieht viel von den
       COUM-Performances und all die Sexheftchen, auf denen Cosey Fanni Tutti
       damals abgebildet war, werden vor die Kamera gehalten. Mitte der Siebziger
       wird aus COUM dann Throbbing Gristle, der Geist der Anti-Kunst wird auf
       Anti-Musik übertragen.
       
       Krach, Lärm und Synthesizer-Experimente prägen den neuen, sogenannten
       Industrial-Sound. Ohne den es keinen Marilyn Manson geben würde und ohne
       den die Musik im Berghain heute anders klingen würde. Die Doku ist der
       Eröffnungsfilm des Soundwatch Festivals und wird als einzige [5][im SO36
       gezeigt]. Als Hommage an ein bahnbrechendes Konzert, das TG damals in dem
       Berliner Club gegeben haben.
       
       ## Gesamtkunstwerk Lydia Lynch
       
       Exzentrik, Tabubrecherei und Sexploitation, darum geht es natürlich auch in
       “[6][Lydia Lunch – The War Is Never Over]“ von Beth B. Noch einmal wird in
       diesem sehr gelungenen Musikfilm der Weg von Lydia Lunch als
       No-Wave-Vorreiterin in New York Ende der Siebziger hin zu einem
       Gesamtkunstwerk nachgezeichnet, das als Schauspielerin,
       Spoken-Word-Künstlerin und weiterhin Musikerin ständig das Spannungsfeld
       zwischen Sex und Gewalt auslotet.
       
       Lunch spricht offen von ihren eigenen Erfahrungen als Opfer von sexuellem
       Missbrauch. Der hat sie freilich nicht zerstört, sondern nur stärker
       gemacht. Sie wurde zur Frau, die sich nimmt, was sie will und wen sie will
       und für die bürgerliche Konventionen keine Rolle spielen.
       
       Thurston Moore, ein alter Freund, berichtet beispielsweise davon, wie er
       einmal mit Lunch in New York unterwegs war und diese meinte, sie müsse
       jetzt unbedingt auf Toilette. Sie setzte sich dann auf die Treppe im
       nächstbesten Hauseingang, zog die Hose runter und ließ es fünf Minuten lang
       einfach laufen. Moore meint, eine wie Lunch habe er kein zweites Mal
       kennengelernt. Und dass sie es mit ihrer aktuellen, super agressiven
       Noiserockband Retrovirus immer noch drauf hat, kann man in der Doku auch
       sehen.
       
       ## Cool bis zum Anschlag: St. Vincent
       
       Weniger extrem als Lunch, aber auch ziemlich tough, ist die Sängerin und
       Gitarristin St. Vincent, um die sich “[7][The Nowhere Inn]“ von Bill Benz
       kreist. Was wie eine Doku über eine der interessantesten Popmusikerinnen
       unserer Zeit wirkt, ist am Ende aber was anderes. Das ganze ist eher ein
       Film, der scheinbar dokumentiert, wie eine Doku am Entstehen ist. Oder so
       ähnlich.
       
       Super originell und voller überraschender Wendungen. Aber auch ein Stück
       weit zu arty, um einen auf Dauer wirklich zu fesseln. Trotzdem ist klar:
       St. Vincent ist cool bis zum Anschlag. Überhaupt: Danke Soundwatch, für all
       diese coolen Frauen, die bei euch gezeigt werden.
       
       10 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://soundwatch.de/2021/programm/fanny
   DIR [2] https://soundwatch.de/2021/
   DIR [3] https://www.lichtblick-kino.org/extra/2021/21_11_Soundwatch
   DIR [4] https://soundwatch.de/2021/programm/other_like_me
   DIR [5] https://www.so36.com/produkte/37141-tickets-opening-other-like-me-so36-berlin-am-10-11-2021
   DIR [6] https://soundwatch.de/2021/programm/lydia_lunch
   DIR [7] https://soundwatch.de/2021/programm/the_nowhere_inn
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Hartmann
       
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