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       # taz.de -- Menschenrechtsaktivistin über Belarus: „Der Winter steht vor der Tür“
       
       > Machthaber Lukaschenko will Europa unter Druck setzen. Und setzt zur
       > Eskalation Flüchtende ein. Eine moralische Antwort fällt da schwer, sagt
       > Exilantin Olga Karatsch.
       
   IMG Bild: Erschöpfte Geflüchtete an der polnisch-belarussischen Grenze
       
       taz: Frau Karatsch, [1][Tausende Geflüchtete, die durch Belarus an die
       Grenze zu Polen laufen]. Was waren Ihre Gedanken als
       Menschenrechtsaktivistin, als Sie die Bilder gesehen haben? 
       
       Olga Karatsch: Wir wussten davon schon länger. Schon vor zwei bis drei
       Monaten haben die belarussischen Sicherheitskräfte über ihre Kanäle
       kommuniziert, [2][dass Alexander Lukaschenko einige Tausend Geflüchtete an
       die Grenze schicken wird, um diese zu stürmen]. Unklar war nur, an welche
       Grenze. Deshalb haben wir das erwartet und auch Partnerorganisationen
       vorab darüber informiert.
       
       Welches Ziel verfolgt Lukaschenko? 
       
       Lukaschenko hat sich bewusst dafür entschieden, den Konflikt mit der
       Europäischen Union zu eskalieren. Denn er steht heute vor folgender Wahl:
       Er ist eingeklemmt [3][zwischen dem belarussischen Volk, das ihn hasst,]
       und Russlands Präsident Wladimir Putin. [4][Der hat einen Plan für die
       Annexion von Belarus], aber keinen Plan für Lukaschenko. Denn es ist klar,
       dass sich Putin zu gegebener Zeit Lukaschenko entledigen wird.
       
       Daher versucht Lukaschenko aus dieser Lage herauszukommen, indem er den
       Konflikt mit Europa anheizt, um vor allem Deutschland dazu zu zwingen, sich
       mit ihm an den Verhandlungstisch zu setzen – allerdings zu seinen
       Bedingungen.
       
       Was heißt zu seinen Bedingungen? 
       
       Das heißt: Deutschland verschließt die Augen vor dem Terror und den
       Menschenrechtsverletzungen in Belarus. Deutschland erkennt ihn als
       Präsidenten an und leistet finanzielle Hilfe, um der wirtschaftlichen Krise
       zu begegnen. Übrigens glaube ich, dass sich dieser Angriff vor allem gegen
       Deutschland richtet. Polen und Litauen sind eher Instrumente, um Druck
       auszuüben.
       
       Nehmen wir an, Lukaschenko scheitert mit seinem Plan. Wie geht es dann
       weiter? 
       
       Es wird weitere Versuche geben, die Grenze zu stürmen. Das bringt polnische
       und litauische Grenzschützer in eine heikle Situation. Sollen sie schießen
       oder nicht? Die Grenzen sind nicht so stark gesichert, um die Geflüchteten
       aufhalten zu können. Zwar reden wir hier von belarussischen
       Spezialoperationen, doch der zweite Organisator ist Putin. Ihm sind beide
       Szenarien recht. Vor allem, nachdem die beiden Staaten eine gemeinsame
       Militärdoktrin unterzeichnet haben. (Vergangene Woche unterzeichneten Putin
       und Lukaschenko einen Fahrplan, der den wirtschaftlichen und militärischen
       Zusammenschluss beider Staaten vorantreiben soll. Anm. d. Red.) Angesichts
       der Lage an der Grenze dürfte er versuchen, die belarussischen
       Sicherheitsstrukturen unter Kontrolle zu bekommen.
       
       Das heißt: seine eigenen Leute nach Belarus und auch an die Grenze zu
       schicken. Vielleicht sind sie auch schon da, wir wissen das nicht so genau.
       
       Wie sollte der Westen denn jetzt reagieren? 
       
       Wir müssen uns eins klar machen: Das Hauptproblem sind nicht die
       Geflüchteten, sondern das Regime Lukaschenko, das alles organisiert. Die
       Geflüchteten sind nur eine Folge davon. Wenn es nicht mehr um sie geht,
       werden sich andere Druckmittel finden lassen. Weder Lukaschenko wird
       aufhören, noch Putin. Was der Westen tun soll, ist moralisch schwer zu
       beantworten. Die Geflüchteten durchlassen? Das hieße: Heute sind es 5.000,
       morgen werden es 15.000 sein. Dann werden nicht 40 Maschinen aus Damaskus,
       Irak und der Türkei wöchentlich in Minsk landen, sondern weitaus mehr.
       
       Aber was dann? 
       
       Auf jeden Fall muss die Versorgung der Geflüchteten mit humanitärer Hilfe
       sichergestellt werden. Der Winter steht vor der Tür und es gab mindestens
       sieben Tote. Ich als Menschenrechtsaktivistin würde sagen: keinesfalls
       Gewalt anwenden, sondern die Geflüchteten durchlassen, zu 100 Prozent.
       Gleichzeitig wächst jedoch die Gefahr, Länder wie Polen, Litauen und
       Lettland weiter zu destabilisieren. Das ist ein echtes Dilemma.
       
       Diese Woche empfängt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier [5][die
       belarussische Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja] in Berlin. Was
       erwarten Sie von dem Treffen? 
       
       Sie und ich, wir verfolgen komplett unterschiedliche Ansätze. Tichanowskaja
       setzt jetzt auf Verhandlungen mit Lukaschenko, bei denen Putin als eine Art
       Mediator auftreten soll. Das ist die Botschaft, die Tichanowskaja überall
       verbreitet. Und das wird sie auch bei diesem Treffen wieder tun.
       
       Meine Position hingegen ist: Angesichts einer drohenden Vereinigung von
       Russland mit Belarus darf nicht mit Putin verhandelt werden. Und mit
       Lukaschenko erst recht nicht. Ich sage: Mit Terroristen verhandelt man
       nicht, und ich möchte an Folgendes erinnern. Alles, was Lukaschenko heute
       tut, ist auch eine Folge dessen, dass man 27 Jahre lang versucht hat, sich
       mit ihm zu verständigen.
       
       Er weiß nur zu gut, dass er in jedem Augenblick ein Angebot für einen
       Dialog machen kann. An den grundsätzlichen Strukturen ändert das jedoch gar
       nichts. Und wie wir jetzt sehen: Solange dieses Regime in Minsk existiert,
       wird auch die Sicherheit in der gesamten Region massiv bedroht sein.
       
       10 Nov 2021
       
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