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       # taz.de -- Lage an polnischer Grenze zu Belarus: Schüsse und Provokationen
       
       > An Polens Grenze zu Belarus ist nun ein Übergang geschlossen. Was im
       > Grenzgebiet passiert, ist unklar. Ortsfremde dürfen es nicht betreten.
       
   IMG Bild: Zu Fuß auf dem Weg zur Grenze: Hunderte Menschen wollen ins EU-Land Polen
       
       Warschau/Berlin taz | Von „Krieg“ ist auf polnischer Seite wegen der
       [1][aus Belarus ankommenden Flüchtlinge] schon länger die Rede. Am Dienstag
       war die [2][Lage im Grenzgebiet] so aufgeheizt wie lange nicht. Ein Funke,
       so fürchten viele, könnte genügen, um ein Feuergefecht zwischen den
       Grenztruppen auszulösen.
       
       Am Vormittag tauchten Videos auf, in einem ist zu sehen, wie ein
       Uniformierter über die Köpfe einer Gruppe von Menschen feuert. Offenbar
       handelt es sich um einen belarussischen Soldaten. In einem anderen sind nur
       Schüsse und belarussische Stimmen zu hören. Es stammt aus einem
       Telegram-Kanal, in dem auch Oppositionelle aus Belarus publizieren. Die
       Videos passen zur polnischen Propaganda, dass die Sicherheitskräfte des
       Nachbarstaats „provozieren“ und immer wieder Richtung Polen schießen.
       
       Polnischen Behördenangaben vom Dienstagmittag zufolge bewegte sich eine
       „große Gruppe“ von Sicherheitskräften des Nachbarlandes in Richtung eines
       Lagerplatzes von Migrant:innen im Grenzgebiet. Umgekehrt meldete die
       belarussische Staatsagentur Belta Schüsse auf polnischer Seite. Das
       Außenministerium in Minsk warnte Polen vor „Provokationen“. Polen schloss
       den Grenzübergang Kuźnica, in dessen Nähe viele Migrant:innen sich im
       Wald aufhalten, laut polnischen Behörden sind es 3.000 bis 4.000.
       Tourist:innen und Grenzgänger:innen wurden gebeten, auf die weit
       entfernten Grenzübergänge in Terespol und Bobrowniki auszuweichen.
       
       ## Bilder, die um die Welt gehen
       
       Was an der Grenze wirklich geschieht, ist unklar. Die regierenden
       Nationalpopulisten von der Partei PiS haben die Grenzregion für
       Journalisten, Ärzte, Asylanwälte sowie humanitäre Organisationen gesperrt –
       und die PiS kontrolliert die Bilder.
       
       Die Fotos aus einem Helikopter etwa vom angeblichen Massenansturm auf
       Polens Grenze machen nicht nur in Polen Eindruck. Sie gingen um die Welt.
       Auf dem Luftbild sind einige Hundert Menschen zu sehen. Sie wurden von
       belarussischen und polnischen Sicherheitskräften auf die jeweils andere
       Grenzseite geprügelt, wie diejenigen erzählen, die es am Ende doch in die
       Freiheit geschafft haben. In den staatlichen Medien aber werden solche
       Bilder als Zeugnis der „aggressiven Angreifer“ und der rechtschaffenen
       polnischen Soldaten präsentiert.
       
       Seit den [3][Streitigkeiten mit der EU über die Rechtsstaatlichkeit], dem
       Knatsch mit Tschechien wegen des [4][Braunkohle-Tagebaus in Turow] und den
       Millionenzwangsgeldern, die Polen täglich an die EU zu zahlen hat, sinkt
       die PiS in der Gunst der Wähler:innen. Einer Umfrage zufolge kommt sie
       derzeit auf gerade mal 32,6 Prozent Zustimmung. Wären am nächsten Sonntag
       Wahlen – die Regierungsmehrheit wäre futsch.
       
       Die Eskalation wegen der Flüchtlinge kommt da wie gerufen. Endlich kann die
       PiS „Polen verteidigen“, wie es im von ihr kontrollierten Staatsfernsehen
       heißt. Da ist von einer „Invasion aus dem Osten“ die Rede, von Leuten, die
       im Geiste des sowjetischen Geheimdienstes die „Attacken auf Polen“
       organisierten, der ja, „wie sich alle gut erinnern“, schon die polnischen
       Offiziere in den Wäldern von Katyn ermordet habe.
       
       ## Hetzkampagne für Wähler:innenstimmen
       
       In der Vergangenheit gelang es der PiS mehrfach, durch Hetzkampagnen eine
       solche Angst zu erzeugen, dass die Stimmung zu ihren Gunsten kippte. Im
       Jahr 2015 etwa wollten zunächst 80 Prozent der Pol:innen den Flüchtlingen
       helfen. Es gab eine „Willkommenskultur“ wie in Deutschland. Doch dann
       warnte PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński vor den gefährlichen Krankheiten,
       die die Flüchtlinge einschleppen würden: Cholera, Typhus, gefährliche
       „Parasiten“. Die würden ihnen selbst nichts ausmachen, aber die Polen
       würden daran sterben.
       
       Zudem stellte er Muslime unter allgemeinen Terrorverdacht. Sie würden
       Polens weiße Frauen vergewaltigen und der katholischen Gesellschaft die
       Scharia aufzwingen. Immer mehr katholische Geistliche übernahmen das neue
       Feindbild und begannen, antimuslimische Predigten zu halten. Schon bald
       wollten 80 Prozent auf gar keinen Fall mehr Flüchtlinge aufnehmen. Die PiS
       gewann die folgenden Wahlen.
       
       Bis heute will die Mehrheit der Polen:innen keine Flüchtlinge aufnehmen,
       so eine neue Umfrage des Forschungsinstituts Ibris. Immerhin über 80
       Prozent möchten, dass die Regierung die EU um Hilfe bittet und so die
       moralische Verantwortung für die Geschehnisse an der Grenze geteilt werden
       kann. Rund 55 Prozent halten den Mythos von Polen als christlicher
       Brandmauer Europas hoch, die ganz allein den Kontinent „vor den Muslimen“
       schützen soll.
       
       In der Grenzregion selbst sehen das keineswegs alle so. Am Dienstag war
       dort der [5][Hilfstransport eines Bündnisses deutscher NGOs] eingetroffen.
       „Die Situation ist sehr aufgeladen“, sagte Liza Pflaum von der „Seebrücke“
       nach Treffen mit lokalen Initiativen in der Stadt Michałowo. „Gleichzeitig
       versuchen viele Menschen vor Ort, Hilfe zu leisten – Anwohner:innen und
       Freiwillige aus anderen Teilen des Landes.“
       
       Doch angesichts der öffentlichen Propaganda [6][fürchteten die
       Helfer:innen] vor allem, dass die Orte bekannt werden, an denen die
       Freiwilligen schlafen und wo die Hilfsgüter gelagert werden. „Die Menschen
       fürchten Angriffe von Neofaschist:innen und die Repression des
       Staates“, sagt Pflaum.
       
       9 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Fluechtlingskonflikt-mit-Belarus/!5808819
   DIR [2] /Belarus-und-die-EU-Aussengrenze/!5813568
   DIR [3] /Eklat-zwischen-der-EU-und-Polen/!5805989
   DIR [4] /EuGH-verurteilt-Polen/!5798008
   DIR [5] /Hilfskonvoi-der-Seebruecke/!5810553
   DIR [6] /Gefluechtete-aus-Belarus/!5808630
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
   DIR Gabriele Lesser
       
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