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       # taz.de -- Kelly Reichardts Filme in Hamburg: Geworfene Menschen
       
       > Zutiefst amerikanisch und dabei arm an Heldengedöns: Das B-Movie in
       > Hamburg würdigt in diesem Monat die Regisseurin Kelly Reichardt.
       
   IMG Bild: Kammerspiel ohne schützende Kammer: Michelle Williams im Irgendwie-Roadmovie „Wendy and Lucy“ (2008)
       
       Hamburg taz | Ein Buddy-Movie, ein Kumpelfilm also, in dem sich die beiden
       Freunde fremd geworden sind. Ein Roadmovie, dessen Protagonistin auf halbem
       Wege liegen bleibt, grob gesagt: Das Auto streikt, ihr Geld reicht nicht
       für irgendwelche Unvorhergesehenheiten, und der Hund ist auch noch weg.
       Western, die alle Zutaten des Genres haben, eigentlich – aber doch immer
       merkwürdig damit fremdeln. Ein Thriller im umweltaktivistischen Milieu, im
       dem es auch knirscht, was die Konventionen von Plot oder Spannung angeht.
       
       Die Filme von Kelly Reichardt lassen sich lesen als ein subversives Umgehen
       mit allerlei Standards und Formen: denen des Hollywood-, aber auch denen
       des US-amerikanischen Independent-Kinos, in dem der Regelverstoß – oder
       zumindest -beugung – ihrerseits ja längst Klischees abwerfen. Dabei sah es
       ganz zu Anfang aus, als stünde ihr eben dort eine glänzende Karriere bevor:
       [1][Ihr Debüt, „River of Grass“], war 1994 eine erkennbar billig
       entstandene, seinerzeit so beliebte Variation auf „Bonny und Clyde“ im
       Vorort-Ambiente. Nicht mit alten Bäumen und weißen Lattenzäune allerdings,
       sondern Vorort im Sinne von: Zersiedelung, Armut, Leben unter
       Schnellstraßen.
       
       „River of Grass“ ist – so wie [2][“Certain Women“ (2016)] – nicht dabei,
       wenn das Hamburger B-Movie der Regisseurin jetzt seinen Monatsschwerpunkt
       widmet. Das dürfte an Technikalitäten liegen: Um eine
       Gesamt-Langfilm-Werkschau zu zeigen, fehlten dem kleinen Kino auf St. Pauli
       schlicht ein paar freie Termine. Inhaltlich wäre das Debüt dabei kein
       Fremdkörper in der Reihe, die sich ausdrücklich „Kelly Reichardts
       Wilderness“ widmet. Denn auch wenn das Gros ihrer Filme im landschaftlich
       spektakulären Oregon spielt – und zwei davon zu Zeiten, da der pazifischen
       Nordwesten noch echten Pioniergeist forderte: Die Wildnis, das ist nicht so
       sehr eine dem Menschen und seinen Kulturtechniken als andere
       gegenüberstehende. Nein, Kelly Reichardts Wildnis ist eine, die der Mensch
       wenn nicht geschaffen, dann doch wesentlich geprägt hat – um sich
       hineingeworfen wiederzufinden, nicht visionär gestaltend.
       
       ## Karriere startete verzögert
       
       Zum Auftakt wurde [3][„Old Joy“] gezeigt (noch mal zu sehen am 20.
       November), Reichardts zweiter Spielfilm, entstanden erst zwölf Jahre nach
       dem Debüt: Was genau dazwischen passiert ist, warum sie keine zunächst
       Indie- und irgendwann dann anständig budgetierte Autorinnensensation wurde?
       Manchmal – und zumindest teilweise im Scherz – hat sogar Reichardt selbst
       es so dargestellt: Sie war halt kein Kerl, Kerle wie Quentin Tarantino aber
       waren das Gesicht des Indie-Films in den 1990ern und darüber hinaus.
       
       Vom grellen, ironisch-anspielungsgesättigten Kino eines Tarantino – oder,
       anders, eines Wes Anderson – unterscheiden sich Reichardts Arbeiten
       maximal: Sie sind geprägt von einer Ruhe, einer Unaufgeregtheit, die
       manchen Zuschauer*innen schon zu viel sein dürfte; späteren Filmen wurde
       mitunter im Gestus echten Überraschtseins bescheinigt, sie seien ja so,
       tja, plotgetrieben.
       
       „Old Joy“ ist wie mehrere der jetzt zu sehenden Filme die Adaption einer
       Kurzgeschichte, was ja schon andeutet: Hier geht es mehr um innere Vorgänge
       denn um äußere Action. Zwei alte Freunde, Mark und Kurt, gehen in den Wald,
       wegen heißer Quellen. Was nur ein paar Stunden dauern soll, dauert über
       Nacht, weil Kurt, der den Weg eigentlich kennt, das doch nicht tut – worin
       sich kristallisiert, wie unterschiedlich die Wege sind, die beide gegangen
       sind seit ihrer gemeinsamen Zeit; wie unterschiedlich geordnet die Bahnen
       ihrer Leben. In der Tat ein ereignisarmer, meditativer Film, dem sich
       zuwenden muss, wer nichts versäumen will.
       
       ## Frauen in tragender Rolle
       
       Dass es da um [4][zwei Männer (und einen Hund) im Wald] geht, mag
       überraschen, denn das Gewicht der weiblichen Charaktere ist auch so ein
       Spezifikum Reichardts: Frauen spielen in beinahe allen ihrer Filme tragende
       Rollen, wenn nicht die einzig tragende. Das hat sich erst mit [5][„First
       Cow“ (2019)] geändert. Reichardts zweite Beschäftigung mit dem
       Western-Genre und einem nicht zeitgenössischen Setting ist nun am 25., 27.
       und 28. November zu sehen – und erzählt auch ganz ohne weibliche
       Hauptrollen, so [6][würdigte es im Sommer die taz], „mit leichter Hand von
       Frühkapitalismus und toxischer Männlichkeit“.
       
       Einen Mann, der nicht ist, was zu sein er vorgibt, hatte [7][„Meek’s
       Cutoff“] (18. und 28. November) sogar im Titel: Stephen Meek, eine reale
       Figur im noch unerschlossenen Nordamerika, ein Trapper, dem sich Mitte des
       19. Jahrhunderts eine Gruppe Siedler anvertraute. [8][Reichardts Film] von
       2010 erzählt die vermeintlich heroische Besiedlung des mitnichten leeren
       Landes als Plackerei, geleistet von Menschen, die sich nicht als
       Held*innen fühlen.
       
       Die Spannung zwischen hehrem Anspruch und schnödem, weiß Gott nie perfektem
       Dasein prägt auch [9][„Night Moves“ (2013)], Reichardts in mancher Hinsicht
       konventionellsten Spielfilm: [10][Ein Thriller, von außen gesehen],
       plotgetrieben und mit gleich mehreren Stars in den Hauptrollen, darunter
       Dakota Fanning und Jesse Eisenberg. Radikal Umweltbewegte wollen da einen
       Staudamm sprengen, ein Zeichen setzen gegen all das, was falsch läuft in
       der Welt – und geraten irgendwann in eine Form der Selbstzerfleischung mit
       drastischen Auswirkungen (14., 21. und 27. November).
       
       Im – aus Sicht des Autors – vielleicht schönsten Film der Reihe geht es
       nicht um große Politik oder fehlgeleiteten Idealismus: In [11][„Wendy and
       Lucy“] (14., 20. und 21. November) strandet Erstgenannte auf dem Weg zu
       irgendeinem miesen Job in einer Fischfabrik. Das Auto ist alt und streikt,
       aber die Dollars sind exakt abgezählt auf dieser Reise – und nun? Wieder so
       ein für Reichardt typisches Spiel mit dem Beinahe und dem Was-hätte-Sollen,
       ein an äußerer Handlung armes Kammerspiel ohne schützende Kammer, dafür in
       einem Freien der vorbeifahrenden Züge und schlampig übergeputzten
       Ernüchterung. Aber Vorsicht: Michelle Williams – die gerade zum vierten Mal
       mit Reichardt gedreht hat – [12][als Wendy zuzusehen], wie sie ihren
       geliebten Hund Lucy sucht und an den Institutionen der schäbigen Kleinstadt
       zu scheitern droht: Das kann Herzen zerreißen.
       
       Infos: [13][https://b-movie.de]
       
       14 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=K9QrvLd2pbY
   DIR [2] /Episodenfilm-von-Kelly-Reichardt/!5385579
   DIR [3] /Archiv-Suche/!812262/
   DIR [4] https://www.youtube.com/watch?v=KkdJV1X4fwI
   DIR [5] /US-Film-im-Wettbewerb-der-Berlinale/!5665559
   DIR [6] /Feministischer-Western-First-Cow/!5782127
   DIR [7] /Regisseurin-ueber-Neo-Western/!5107899
   DIR [8] https://www.youtube.com/watch?v=iR5o8omffT8
   DIR [9] /Kelly-Reichardt-ueber-ihren-neuen-Film/!5035672
   DIR [10] https://www.youtube.com/watch?v=s7-VqKLYZks
   DIR [11] /US-Kinofilm-Wendy-and-Lucy/!5153957
   DIR [12] https://www.youtube.com/watch?v=pASs3rerRCY
   DIR [13] https://www.b-movie.de
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alexander Diehl
       
       ## TAGS
       
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       durchquert.