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       # taz.de -- Alleinerziehende in Pandemie: Der Druck wächst
       
       > Für Alleinerziehende ist die Coronakrise eine schwere Zeit. Jobprobleme,
       > Krankheiten und Unsicherheit verschärfen die Situation. Zwei Frauen
       > erzählen.
       
   IMG Bild: Ein Kita-Kind mit einem negativen Coronatest (Symbolbild)
       
       Berlin taz | Luisa Friedemann* blinzelt in die Sonne. Die 52-jährige
       Diplom-Designerin sitzt in einem Straßencafé im Szenebezirk Berlin-Mitte,
       vor ihr eine Tasse Cappuccino und in der Hand ein Smartphone. Man glaubt
       einen Hauch von Dolce Vita zu spüren. Mit der gebräunten Haut, den langen
       blonden Haaren und dem strahlenden Lächeln passt Friedemann gut ins Bild.
       Für einen Moment scheint die Illusion perfekt.
       
       Doch dann bringt einen Friedemann zurück auf den Boden der Tatsachen, denn
       nach fast zwei Jahren Pandemie sieht die Realität für sie ganz anders aus.
       „Man hat einfach einen höheren Resilienzfaktor, wenn man wie ich schon
       öfter auf die Schnauze gefallen ist“, sagt sie.
       
       Friedemann gehört zu den [1][1,34 Millionen alleinerziehenden Müttern und
       185.000 alleinerziehenden Vätern] in Deutschland. Was nicht alle wissen:
       Als Berlinerin wohnt die Freiberuflerin in der Hauptstadt der
       Alleinerziehenden. Nirgendwo in Deutschland leben durchschnittlich so viele
       Einelternfamilien wie in Berlin.
       
       Deshalb hat man hier während der vergangenen Jahre Netzwerke mit besonderen
       Angeboten für Alleinerziehende aufgebaut. Doch in der Pandemie wurden
       Einelternfamilien auch in der Hauptstadt auf sich selbst zurückgeworfen.
       Denn egal, ob es um Homeoffice, Homeschooling oder Quarantäneregelungen in
       Schulen und Kitas geht – mit den Folgen der Krise haben Alleinerziehende
       fast überall alleine zu kämpfen.
       
       ## „Ich bin ein Duracell-Männchen“
       
       Eigentlich ließe sie sich ja durch nichts so schnell einkriegen, als
       „Duracell-Männchen“ bezeichnet sich Luisa Friedemann mit einem
       Augenzwinkern. Ihre kleine Familie sei daran gewöhnt, alleine
       zurechtzukommen und Abstriche zu machen. Als das Virus nach Deutschland
       kam, habe sie das Ganze zunächst als Herausforderung betrachtet –
       vielleicht sogar als Chance, sich wieder mehr auf sich selbst zu besinnen.
       
       Nach der Trennung von ihrem Mann gab es einen Gerichtsbeschluss. Er besagt,
       dass Friedemanns jüngerer Sohn jedes zweite Wochenende bei seinem Vater
       verbringen soll. Den Alltag mit ihren Kindern, in der ersten, zweiten,
       dritten und vierten Coronawelle, muss sie jedoch in erster Linie alleine
       bewältigen.
       
       Trotzdem: „Egal, ob Homeschooling, Job oder Haushalt – am Anfang reichte
       meine Kraft noch für alles“, sagt Friedemann. Seit dem Frühjahr 2020
       änderte sich dann einiges für die Designerin: „Vor dem ersten Lockdown war
       mein kontinuierlichster Arbeitgeber ein Berliner Verlag für Stadtmagazine.
       Eines der Stadtmagazine wurde coronabedingt eingestellt, die Angestellten
       gingen in Kurzarbeit und meine freie Mitarbeit wurde nicht mehr benötigt“,
       erzählt sie.
       
       Ein Leben am Existenzminimum ist seitdem Friedemanns Alltag geworden:
       „[2][Meine Soloselbstständigenhilfe] ist winzig. Hätte ich meine Freunde
       und Familie nicht gehabt, ich weiß nicht, was ich getan hätte.“
       
       ## Der kleine Sohn steckte sich an
       
       Im Herbst 2020 kam Luisa Friedemann dann auch gesundheitlich an ihre
       Grenzen. Während eines Wochenendbesuches bei seinem Vater steckte sich ihr
       kleiner Sohn mit Corona an und brachte das Virus mit nach Hause. Daraufhin
       erkrankte sie schwer an Covid. So schwer, dass sie ins Krankenhaus musste
       und bis heute unter den Langzeitfolgen der Krankheit leidet.
       
       „Das kann man sich so vorstellen wie bei einem Schalter im Kopf. Springt
       der um, fällt dein Kopf auf den Tisch und nichts geht mehr – dann kommt die
       totale Erschöpfung“, schildert sie. Als es Friedemann gesundheitlich
       besonders schlecht geht und sie nicht arbeiten kann, holt ihre Schwester
       die Kinder zu sich und eine Freundin stellt ihr jeden Tag eine Suppe vor
       die Tür. So kommt die Familie durch die schwerste Zeit.
       
       „Zuerst nannten die Ärzte meine Krankheit noch Post-Covid. Das Post-Covid
       hörte dann aber nicht mehr auf.“ Den letzten Sommer sollte die Berlinern
       deshalb eigentlich in einer auf das Long-Covid-Syndrom spezialisierten
       Reha-Klinik verbringen. „Diese Kliniken nehmen aber keine Alleinerziehenden
       auf“, sagt Friedemann. Also habe sie sich am Ende für eine Mutter-Kind-Kur
       im Bayerischen Wald entschieden. „Im Bayerischen Wald wussten sie zwar
       nicht, wie man mit meinen Symptomen umgeht. Aber sie konnten mich mit
       meinen Kindern dort aufnehmen.“
       
       ## Heute braucht sie Ruhepausen
       
       Bis heute leidet Luisa Friedemann an chronischer Erschöpfung und lebt
       deshalb nach einem strikten Plan: Sie muss regelmäßig Ruhepausen einlegen,
       um durch den Tag zu kommen. In ihrem Schlafzimmer hat sich die Berlinerin
       eine kleine Siebdruckerei eingerichtet und erstellt dort Kunstdrucke auf
       Papier, Karton und Leinwand: „Diese Arbeit war für mich so eine Art
       Befreiungsschlag.“ Davon leben können Friedemann und ihre Söhne trotzdem
       nicht: „Im Moment finanzieren wir uns über ein wildes Konglomerat aus
       verschiedenen Tätigkeiten und familiärer Unterstützung.“
       
       Friedemann ist auch in der Krise aktiv geblieben, hat nie aufgehört,
       positiv zu denken, trotz ihrer Krankheit. Viele Alleinerziehende schaffen
       das nicht. Das kann auch mit Gewalterfahrungen in Beziehungen zu tun haben.
       
       Olga Almanzar* arbeitet in einem interkulturellen Beratungszentrum und lebt
       mit ihrem 9-jährigen Sohn seit ein paar Monaten in einem östlichen Berliner
       Wohnbezirk. Ihr neuer Kiez mit den Plattenbauten wirkt familienfreundlich –
       es gibt viele Spielplätze und viel Grün.
       
       Almanzar weiß, dass sie sich glücklich schätzen kann, als Alleinerziehende
       eine bezahlbare Wohnung gefunden zu haben. „Ohne Hilfe hätte ich das nicht
       geschafft.“ Ihre 2-Zimmer-Wohnung ist nicht größer als 50 Quadratmeter. Der
       grauhaarige Hund, den sie gerade aus einem Tierheim geholt hat, empfängt
       jeden Besucher schwanzwedelnd. Fast alle Wände in der Wohnung hängen voll
       mit farbenfrohen Erinnerungsfotos, einige erzählen von einem früheren Leben
       in Ägypten. Olga Almanzar schließt die Küchentür leise hinter sich. Ihr
       Sohn soll auf keinen Fall mithören.
       
       ## Der Mann wurde handgreiflich
       
       „Um den Kontakt zu meinem damaligen Mann möglichst gering zu halten, habe
       ich den ersten und den zweiten Lockdown in meinem Schlafzimmer verbracht“,
       erzählt sie. Da ist Almanzars Mann längst in Kurzarbeit. Die Ehepartner
       haben getrennte Schlafzimmer, er bleibt während der Nächte wach und ruht
       sich tagsüber aus, raucht eine Zigarette nach der anderen, hilft nicht im
       Haushalt und zahlt kaum Geld in die Haushaltskasse. Eheprobleme hätten sie
       schon früher gehabt, erzählt Almanzar.
       
       Zweimal wäre ihr Mann vor Corona bei einem Streit bereits handgreiflich
       geworden und sie hätte die Polizei rufen müssen: „Im Lockdown hatte er mich
       dann unter Kontrolle. Weil er genau wusste, dass ich, um meinen Sohn zu
       schonen, alles tun würde, um keinen Streit zu bekommen.“ Olga Almanzar
       wäscht, kauft ein, kocht und putzt die Wohnung, während ihr Mann tagsüber
       fast nur noch schläft. Im Dezember 2020 ist das Maß für sie dann voll.
       
       Doch eine Trennung ist teuer und Almanzar hat finanzielle Probleme. „Ich
       habe jahrelang zu wenig Geld verdient, um davon leben zu können. Aber immer
       zu viel, um irgendwelche Hilfen zu bekommen“, erzählt sie.
       
       ## Eine neue Wohnung als Chance
       
       Jedes Mal, wenn sie eine Rate nicht bezahlen konnte, habe sie sich schuldig
       gefühlt. Bis man ihr in einer Schuldnerberatung versichert, dass sie ihre
       Schulden nicht mehr in den Griff bekommen kann. Vielen Alleinerziehenden
       gehe es gerade so. Daraufhin trennt sich Almanzar von ihrem Mann und meldet
       Privatinsolvenz an. Ihre neue Wohnung findet sie mit Hilfe einer Berliner
       Wohnungsvermittlung, die von Gewalt betroffene Frauen dabei unterstützt,
       einen neuen Anfang zu machen.
       
       Gemeinsam mit einem Forschungsteam hat Sabine Hübgen vom
       Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) untersucht, inwieweit die Coronapandemie
       in der deutschen Hauptstadt eine Krise der Frauen ist. Bei der Studie ging
       es hauptsächlich um die Erwerbs- und Familiensituation von Frauen in
       Berlin.
       
       Heraus kam unter anderem, dass die Pandemie für viele Frauen einen enormen
       Anstieg der sogenannten Mental Load mit sich gebracht hat. Das heißt, die
       Last der alltäglichen, unsichtbaren Verantwortung für das Organisieren von
       Haushalt und Familie ist viel größer geworden.
       
       Viele Frauen würden außerdem einen stärkeren Rückgang in der Zufriedenheit
       mit ihrem Arbeits- und Familienleben sowie mit ihrem Leben insgesamt
       zeigen. Häusliche Gewalt sei gestiegen. Gleichzeitig betont Hübgen, dass es
       in Berlin viele Frauen gibt, die gleichzeitig in Armut leben, eine
       Migrations- oder Fluchtgeschichte haben oder alleinerziehend sind. Sabine
       Hübgen: „Für diese Gruppen sind alle negativen Auswirkungen der Pandemie
       noch potenziert.“
       
       Was bedeutet das für Luisa Friedemann und Olga Almanzar? Corona hat einige
       Entwicklungen in ihrem Leben beschleunigt: Für Almanzar war die Pandemie
       eine Art Katalysator für die Trennung von ihrem Mann – Friedemann musste
       sich beruflich neu orientieren. Wie viele andere Alleinerziehende, die in
       einer prekären Situation leben, Gewalterfahrungen gemacht haben oder eine
       Migrationsgeschichte haben, hat sie die Pandemie mit voller Wucht
       getroffen. Der Druck auf beide hat zugenommen. Gleichzeitig sind sie aber
       auch unsichtbarer geworden. Was wartet jetzt auf sie in der nächsten Zeit?
       Quarantäneregelungen, wieder Homeschooling bei gleichzeitigem Homeoffice,
       wieder ein Lockdown? Keiner weiß das im Moment so genau.
       
       * Namen geändert
       
       30 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61581/alleinerziehende
   DIR [2] https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Schlaglichter/Corona-Schutzschild/ueberbrueckungshilfe-lll-plus.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gabriele Voßkühler
       
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