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       # taz.de -- Nabu-Präsident zur Klimakonferenz: „Wir erleben eine Krise der Natur“
       
       > Nabu-Präsident Jörg-Andreas Krüger warnt davor, die Biodiversität zu
       > vernachlässigen. Warum die FDP und das Agrarministerium ein Problem sind.
       
   IMG Bild: „Als ein großer Freund der Feldlerche hat sich Christian Lindner bislang nicht gezeigt“
       
       Herr Krüger, a uf der [1][Klimakonferenz in Glasgow überschlagen sich die
       Regierungen derzeit mit Finanzierungszusagen] zum Klimaschutz. Sind wir bei
       dem Thema weiter als beim Artenschutz? 
       
       Jörg-Andreas Krüger: Beim Klimaschutz hat man immerhin die Notwendigkeit
       erkannt, etwas zu tun. Viele Länder leiden ja schon jetzt ganz konkret und
       schwerwiegend unter dem Klimawandel. Andererseits laufen wir den
       selbstgesteckten Klimaschutzzielen hinterher. Die konkrete Politik bleibt
       also hinter den Erkenntnissen zurück. Dieses Problem ist bei den
       [2][Verhandlungen zur Biodiversitätskonvention] noch gravierender.
       
       Wie kommen wir da raus? 
       
       Wir brauchen ein starkes Signal der Regierungen. Nach dem Fiasko von
       Kopenhagen steckte das globale Klimaregime ja auch in einer riesigen Krise.
       Das Momentum von Paris hing dann damit zusammen, dass einige
       Regierungschefs voran gegangen sind und Führung übernommen haben. Die
       Bundesregierung hat ihre G7-Präsidentschaft erfolgreich genutzt, um das
       Pariser Abkommen zu ermöglichen. Im nächsten Jahr geht es dann bei der
       Weltnaturkonferenz um ein verbindliches Abkommen für die biologische
       Vielfalt – ich weiß gar nicht, ob Olaf Scholz sich bewusst ist, wie viel
       hier international von der deutschen G7-Präsidentschaft im kommenden Jahr
       erwartet wird.
       
       Was erwarten Sie? 
       
       Dass die neue Bundesregierung die Anführerrolle übernimmt, sich
       internationale Verbündete sucht und Schwung in die Verhandlungen bringt.
       Klima-, Natur- und Artenkrise sind doch längst keine belächelten Randthemen
       mehr. Sie sind ins Zentrum des politischen Geschehens gerückt, seit
       deutlich ist, dass sie Frieden und Wohlstand gefährden – und zwar überall
       auf der Welt.
       
       Die Ampel-Koalition hat sich vorgenommen, mit Klimaschutz den
       Industriestandort Deutschland zu modernisieren. Wie groß ist das
       Modernisierungspotential des Artenschutzes? 
       
       Ob das ein erfolgversprechender Ansatz beim Klimaschutz ist, muss sich auch
       erst noch zeigen. Beim Artenschutz geht es auf jeden Fall nicht ums
       Modernisieren, sondern ums Heilen. Wir müssen unsere Lebensgrundlagen
       erhalten oder sie wieder herstellen. Wir haben unsere Moore entwässert, die
       Wälder sterben. Wir werden kein gutes gesellschaftliches und
       wirtschaftliches Leben haben, wenn wir unsere Natur ruinieren.
       
       Wieso nicht? 
       
       Weil Ökosysteme, die so gestört sind, dass sie sich nicht mehr aus eigener
       Kraft an den Klimawandel anpassen können, uns viel Geld kosten werden. Dann
       müssen wir ständig in sie investieren, in Wasserrückhaltesysteme, in
       Bodenschutz; vernichten wir unsere Wälder, müssen wir Rohstoffe teuer
       einkaufen. Das wird teuer.
       
       Der Klimawandel ist auch für uns in Deutschland ein Problem: Das ist vielen
       Menschen nach Dürrejahren und Sommerflut klar. Gilt Ähnliches auch für den
       Verlust von Arten? 
       
       Schon. Wir merken das an [3][steigenden Mitgliederzahlen] und vielen,
       vielen Anfragen aus der Bevölkerung. Und alle Parteien haben etwas zu
       biologischer Vielfalt in ihre Programme geschrieben. Aber im Alltagserleben
       ist das Artensterben bei uns noch nicht angekommen. Wir können alles mit
       Geld zukleistern. Im globalen Süden hängen die Leute viel direkter von
       Ökosystemleistungen ab. Wenn dort die Weidegründe zu trocken sind und die
       Tiere nicht genug Nahrung finden, dann gibt es Hunger. Bei uns steigen erst
       einmal nur die Lebensmittelpreise.
       
       Der „Schutz der Biodiversität“ klingt abstrakt, „Artenschutz“ klingt nach
       Vögelchen und Bienchen – wie lässt sich einer breiten Öffentlichkeit die
       Relevanz des Themas erklären? 
       
       Wir sollten deutlich benennen, dass wir eine Krise der Natur erleben. Das
       Artensterben ist ja nur ein Teil davon. Ich halte es aber für sinnvoll,
       diese Krise über bestimmte Leitarten zu erzählen. Wenn wir etwa, auf
       internationaler Ebene, den Tiger schützen, oder hierzulande den Luchs, dann
       schützen wir nicht nur diese Arten, sondern auch ihren Lebensraum und das
       gute Zusammenleben zwischen diesen Tieren und den Menschen.
       
       Kommt die Krise der Natur in den Koalitionsverhandlungen der Ampel
       ausreichend vor? 
       
       Ich war mehr als erstaunt, dass im Sondierungspapier nur fünf oder sechs
       Zeilen zum Artenschutz standen, versteckt im Klimakapitel. Da fehlt doch
       was!, habe ich gedacht, denn in den Wahlprogrammen stand noch drin, man
       müsse der Biodiversitätskrise als Menschheitskrise begegnen. Wir warten nun
       also mit großem Interesse, was in den Arbeitsgruppen herauskommt.
       
       Bisher verhandelt die FDP offenbar erfolgreich. Ist das ein Problem für den
       Artenschutz? 
       
       Tja, als ein großer Freund der Feldlerche hat sich Christian Lindner
       bislang nicht gezeigt. Ich glaube, an der Stelle können wir ihn nicht
       packen. Aber er interessiert sich für Finanzen und tritt für die
       Leistungsgesellschaft ein. Darum geht es doch. Wir müssen umweltschädliche
       Subventionen abbauen und vermeiden, dass uns die Naturzerstörung finanziell
       über den Kopf wächst. Und wir müssen, etwa im Agrarbereich, Subventionen
       umwandeln in Honorare. Wir müssen honorieren, wenn Landwirte Leistungen für
       die Allgemeinheit und die Umwelt erbringen. Ich denke, das versteht die
       FDP. Aber natürlich ist sie von den drei Parteien am weitesten weg von den
       Naturschutzthemen, sie hat in den wenigsten Ländern Umweltministerien
       verantwortet und besitzt am wenigsten Erfahrung.
       
       Was erwarten Sie also von der künftigen Ampelkoalition? 
       
       Wir brauchen mehr Geld. Unsere Schutzgebiete sind unterfinanziert,
       Deutschland stolpert von einem EU-Vertragsverletzungsverfahren ins nächste.
       Die Bundesländer setzen die Natura 2000-Richtlinie nicht ordentlich um, der
       Gewässerschutz funktioniert nicht, wir kommen unserer Verantwortung für
       Arten nicht nach, die vor allem bei uns leben, wie beim Rebhuhn. Wir
       brauchen etwa 1 Milliarde Euro mehr für Naturschutz in Deutschland, und
       mindestens 1 Milliarde mehr auf internationaler Ebene, im Rahmen der
       Biodiversitäts-Konvention. Teilweise lässt sich das refinanzieren, indem
       wir umweltschädliche Subventionen abbauen, das hat uns das Umweltbundesamt
       gerade wieder vorgerechnet.
       
       Der hartleibigste Gegner des Naturschutzes war in der vergangenen
       Legislaturperiode das CDU-geführte Agrarministerium. Sollte die Ampel es
       auflösen? 
       
       Es wäre sehr sinnvoll, Landwirtschaft, Forsten und Umwelt in einem Haus zu
       bündeln. Es könnte dann Nutzung und Schutz natürlicher Ressourcen
       aufeinander abstimmen. Man könnte auch Klima, Verkehr und Bauen zusammen
       legen. In der vergangen Legislaturperiode war die Diskussion mit dem
       Agrarressort auf jeden Fall sehr mühsam, nicht nur in den großen Linien,
       sondern auch im Kleinen. Ich denke zum Beispiel an die Diskussion über ein
       Verbot von Bleischrot auf EU-Ebene. Blei ist ein riesiges Problem zum
       Beispiel für bedrohte Greifvögel, die es aufnehmen. Von den anderen
       Mitgliedsländern kamen gute Vorschläge, nur wir haben uns in einem 40 Jahre
       alten Streit verstrickt. Das habe ich nicht verstanden.
       
       5 Nov 2021
       
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