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       # taz.de -- „Investorenschreck“ wird Buchautor: Rebellion als Pflicht
       
       > Florian Schmidt, grüner Baustadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg, hat ein
       > Buch geschrieben. Es ist eine Anleitung für den Kampf um lebenswerte
       > Städte.
       
   IMG Bild: Weiß, wie lebenswerte Stadt geht: Baustadtrat und Buchautor Florian Schmidt (Bildmitte)
       
       Wenn Politiker*innen Bücher schreiben, darf man gerne fragen: Warum
       machen sie das? Wollen sie Kanzlerin werden, ein bisschen was fürs Ego tun
       oder einfach kostenlose Fotowerbung für sich in Buchhandlungen? Bei Florian
       Schmidt, inzwischen [1][bundesweit bekannter Baustadtrat] von
       Friedrichshain-Kreuzberg, darf man hingegen getrost weniger eigennützige
       Beweggründe annehmen, die zum Entstehen seines Buchs „Wir holen uns die
       Stadt zurück“ beigetragen haben.
       
       Denn zum einen erschien das Buch just einen Monat nach den Wahlen in Berlin
       und im Bund; zum anderen ist des Grünen Position als bezirklich
       finanzierter [2][„Investorenschreck“] – wie die bürgerliche Presse ihn
       nennt – nicht ernsthaft gefährdet, laut allem, was man so hört, bleibt
       Schmidt Baustadtrat.
       
       Bei Schmidts Buch mit dem Untertitel „Wie wir uns gegen Mietenwahnsinn und
       Bodenspekulation wehren können“ stellt sich eher die Frage: Wer ist die
       Zielgruppe? Denn der 46-Jährige verwebt darin soziologische Forschung und
       Theorien, persönliche Erfahrungen, kleine Porträts, eine Prise Eigenlob und
       praktische Tipps für den Einsatz gegen Gentrifizierung auf gut 290 Seiten.
       Das liest sich nicht mal eben so locker weg; die Ausbildung zum
       Häuserkämpfer des 21. Jahrhunderts ist aber auch kein Pappenstiel.
       Schließlich ist der Gegner kein Geringerer als der entfesselte globale
       Kapitalismus.
       
       Der hat bekanntlich seit der weltweiten Finanzkrise 2008 die Städte ins
       Visier genommen, um ordentlich Kasse zu machen, und investiert in
       Betongold: Große Immobilienkonzern und Fonds kaufen en gros Häuser,
       [3][teils ganze Straßenzüge] vor allem in innerstädtischer Lage auf, um sie
       kurze Zeit später auf Hochglanz saniert und zu Eigentumswohnungen zerlegt
       wieder zu veräußern. Den Gewinn, den die Firmen dabei einstreichen,
       finanzieren letztlich die Mieter*innen. Deren Verdrängung verändert die
       Kieze, was wiederum die Politik auf den Plan ruft – die allerdings weniger
       wirkmächtig ist als erhofft.
       
       Schmidt setzt deswegen als treibende Kraft gegen die Verödung der
       Innenstädte auf „rebellische stadtpolitische Bewegungen, radikale, aber
       pragmatische Politiker*innen und gemeinwohlorientierte
       immobilienwirtschaftliche Organisationen“.
       
       Erstere tragen laut dem Baustadtrat das „Gen der urbanen Lebensqualität in
       sich, menschliches Engagement in Kombination mit sozialer Vielfalt“ und
       bilden damit die Keimzelle für eine neue, gemeinwohlorientierte
       Stadtpolitik und den neuen Munizipalismus, in Spanien entschieden
       vorangetrieben von der Aktivistin [4][Ada Colau], heute Bürgermeisterin von
       Barcelona. Sie ist, das scheint durch, in vielerlei Hinsicht Schmidts
       Vorbild.
       
       Der Autor nimmt die Leser*innen mit auf eine umfassende Analyse der Lage
       in Städten, nicht nur, aber insbesondere in Berlin. Er beschreibt
       Initiativen und deren Taktik, sich die Stadt zurück zu holen („Rebellion
       ist Pflicht“), indem sie gegen Investoren kämpfen oder Autos aus dem Kiez
       drängen, und präzisiert die Rolle der Politik. Am Ende stehen Visionen zum
       „guten Leben in der Stadt“ und zwölf Beispiele für besseres Wohnen. Wer
       wissen will, wie Friedrichshain-Kreuzberg in 20 Jahren aussehen könnte:
       Hier steht es.
       
       Nur macht es Schmidt den Leser*innen nicht gerade einfach, dort
       anzukommen, was vor allem an der oft wissenschaftlich-sperrigen Sprache
       oder den schrägen Sprachbildern liegt. „Die Städte in Deutschland stehen
       mit dem Rücken zur Wand“, heißt es etwa gleich zu Beginn. Das ist in Berlin
       seit dem Ende der Mauer 1989 nicht mehr der Fall, und auch bundesweit
       dürfte es schwer sein, den Rücken von Städten zu entdecken.
       
       Wer sich fit machen will für linke städtepolitische Debatten der Gegenwart
       und Zukunft, liegt mit dem Buch aber richtig und wird mit Informationen aus
       erster Hand versorgt: Schließlich gehört Florian Schmidt zu den wichtigsten
       politischen Akteuren in Deutschland in dieser Frage.
       
       Florian Schmidt, „Wir holen uns die Stadt zurück“. Ullstein-Verlag, 17,99
       Euro.
       
       8 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/berliner-baustadtrat-hat-immobilienbranche-gegen-sich-15854649.html
   DIR [2] https://www.welt.de/politik/deutschland/plus184249810/Berlin-Baustadtrat-Florian-Schmidt-ist-der-Schreck-der-Investoren.html
   DIR [3] /Gentrifizierung-in-Berlin/!5419811
   DIR [4] /Preissteigerungen-in-Staedten/!5801691
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bert Schulz
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Gentrifizierung in Berlin
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   DIR Lesestück Recherche und Reportage
       
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