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       # taz.de -- Afghanistan nach dem Truppenabzug: Das langsame Sterben
       
       > Rund 1.000 Menschen harren derzeit im Kabuler Azadi-Park aus. Die
       > Temperaturen: im Minusbereich. Das Essen: knapp. Wie soll es weitergehen?
       
       Der Säugling ist 45 Tage alt geworden. Seine Haut war grau, sein Name
       Siobhan. Irgendwann hörte er einfach auf zu atmen. Er starb vor Kälte und
       Hunger. Von den Vertriebenen, die in Kabuls Azadi-Park, zu deutsch
       „Freiheitspark“, leben, ist er bereits der elfte Tote. Sie sind gestorben,
       ohne dass sie je gehört oder gesehen wurden. Es sind Bilder, die Medien
       nicht zeigen wollen, weil sie zu belastend sind.
       
       [1][Zu Afghanistan] sagen die Vereinten Nationen nur, dass die
       Ernährungssicherheit von 95 Prozent der Bevölkerung nicht gewährleistet
       ist. Was das bedeutet, zeigt sich im Azadi-Park, wo bei einem Besuch Kinder
       vor einem ohnmächtig werden. Plötzlich hören sie einfach auf zu atmen. Nach
       einem Krieg, der zwanzig Jahre gedauert und der 2,3 Billionen US-Dollar
       gekostet hat, haben sich die USA aus Afghanistan zurückgezogen. Auf ihrem
       Botschaftsgebäude weht jetzt die Flagge der Taliban.
       
       [2][Derweil ist Kabul in einer Art Warteschleife]. Auf der einen Seite ist
       da die internationale Gemeinschaft. Sie hat noch nicht entschieden, ob sie
       die neue Regierung anerkennt oder nicht. Sie hat auch nicht entschieden,
       wie sie mit den Taliban umgehen soll. Deshalb wurden bisher nur die
       Reserven der Zentralbank eingefroren und die bisherigen Hilfen blockiert.
       Diese machten zuvor rund 40 Prozent des Bruttosozialproduktes aus.
       
       [3][Auf der anderen Seite sind da die Taliban]. Sie behaupten, sie hätten
       sich geändert und seien nicht mehr so wie früher, als sie unverheiratete
       Liebespaare gesteinigt haben, Dieben Hände abhackten und Musik, Filme und
       Spiele verboten, weil diese die Menschen von Allah ablenken könnten.
       Wahrscheinlich haben die Taliban selbst nicht damit gerechnet, plötzlich so
       schnell wieder an die Macht zu kommen. Und jetzt müssen sie erst selbst
       noch herausfinden, wie ihr Afghanistan künftig aussehen soll. Neben einem
       allgemeinen Appell, entsprechend der Traditionen zu leben, müssen sie ihre
       neuen Regeln erst selbst noch klären.
       
       Sicher ist nur, dass es auf Kabuls Straßen viel ruhiger geworden ist. Es
       gibt keine Schüsse mehr, keine Kriminalität. Doch der Hauptfeind ist
       momentan auch ein anderer – der Winter. „Der wird viel mehr Opfer fordern
       als die Gotteskrieger vom sogenannten Islamischen Staat, von denen ihr
       derzeit so viel redet“, sagt Abdul Baseer Rahimi. Er ist so etwas wie eine
       Aufsicht im Azadi-Park.
       
       Dieser Park ist eigentlich gar kein richtiger, sondern eher eine Lichtung
       am Stadtrand von Kabul. Rund Eintausend der 3,5 Millionen Binnenflüchtlinge
       aus den verschiedenen Afghanistankriegen suchen hier in Zelten aus Jute und
       Fetzen Zuflucht. Sie alle haben die letzten drei Tage nichts gegessen. Es
       gab nur Tee, das Wasser gekocht auf einem Feuer aus Plastikflaschen und
       abgetragenen Schuhen.
       
       „Vor der Machtübernahme der Taliban gab es hier eine Versorgung durch
       Nichtregierungsorganisationen. Aber die haben hier inzwischen alle ihre
       Arbeit eingestellt“, sagt Rahimi. „Wir bekommen auch keine Spenden von
       Afghanen mehr, denn die Wohlhabenden sind ins Ausland gezogen, und die noch
       hier sind, haben ihr letztes Gehalt vor fünf Monaten bekommen.“ Das
       Bankensystem ist weitgehend zusammengebrochen, berichtet Rahimi. „Von einem
       Bankkonto darf man derzeit nicht mehr als 200 Dollar pro Woche abheben.
       Sogar Western Union hat die Geldüberweisungen eingestellt. Wir können
       derzeit keinen Cent mehr aus Europa bekommen.“
       
       Die Menschen hier sind sich komplett selbst überlassen. „Wenn sie könnten,
       würden alle Binnenvertriebenen in ihre Dörfer zurückkehren, wo sie sich
       zumindest auf ihre Nachbarn, Freunde und Verwandte verlassen könnten. Aber
       sie können sich die Rückreise nicht mehr leisten“, weiß Rahimi. „Und die
       Fahrer habe auch kein Geld für Benzin.“
       
       Zusammen mit den Devisenreserven der Zentralbank wurde die gesamte
       Wirtschaft eingefroren. Als im August viele Afghanen auf der Suche nach
       einem Ausweg zum Flughafen von Kabul eilten, schlugen andere den
       entgegengesetzten Weg ein und kehrten nach Afghanistan zurück. Der
       29-jährige Abdul Baseer Rahimi gehört zu ihnen. Er war in Russland, wo er
       eine Militärakademie besuchte. Alle rieten ihm von einer Rückkehr ab,
       erzählt er. Welche Zukunft könnte er jemals in Kabul haben?
       
       „Das Problem von Afghanistan ist nicht Afghanistan selbst“, ist sich Rahimi
       sicher. „Das Problem dieses Landes sind die anderen Länder.“ Und er zählt
       auf: „Großbritannien, Russland, die Vereinigten Staaten, Pakistan. Es geht
       nicht um Afghanen, es geht nicht um uns.“ Woran man das erkennen kann? Die
       Experten der Welt diskutieren seit Abzug der westlichen Soldaten über die
       Frage, worin sich die heutigen Taliban von denen unterscheiden, die vor
       zwanzig Jahren über das Land herrschten.
       
       Oder worin sie sich von Al-Qaida unterscheiden oder dem Islamischen Staat
       oder dem Iran. Und welche Unterschiede bestehen würden zwischen Kabul und
       ländlichen Gebieten, zwischen Nord und Süd, zwischen den von Pakistan
       unterstützten Taliban und denen, die von Katar unterstützt werden. Und sie
       fragen, was in Indonesien, was in Mali, im Irak und im Gazastreifen
       passiert. Während die Welt also diskutiert, sind die Afghanen schlicht
       verzweifelt.
       
       Wenn man in den Azadi-Park geht, laufen einem sofort alle hinterher. Man
       wird regelrecht belagert. Sie greifen nach deiner Hüfte, deinen Schultern,
       selbst deine Knöchel werden angefasst. Alle wollen eine Telefonnummer
       überreichen oder die zerknitterte Kopie eines Ausweises oder eines
       ärztlichen Rezepts. Manche zeigen ein Abzeichen, das sie als Übersetzer der
       US-Armee ausweist. Es spielt keine Rolle, dass man nur eine Reporterin ist.
       Sie geben nicht auf, bis du endlich ihren Namen aufschreibst: Basmina,
       Yaqoot, Shafiq, Hashmat. Als ob ein Name reichen würde, sie je
       wiederzufinden.
       
       Derweil zieht ein Süßigkeitenverkäufer vorbei. Aber die Kinder hier haben
       doch nichts, sagt ihm einer. Dann ist es bloß grausam, hierher zu kommen
       mit all diesen Waren. Aber der Verkäufer ist selbst noch ein Kind und
       genauso hungrig wie alle anderen. Der Azadi-Park ist schlicht überwältigend
       in seinem Elend. Eine junge Frau hier blutet aus dem Ohr und dem Mund. Ein
       Mann hat keine Augen mehr, weil er von einem Granatsplitter getroffen
       wurde. Ein Junge hat einen verkrüppelten Arm. Seine Knochen sind nach
       mehreren Frakturen nicht mehr richtig zusammengewachsen. Ein Mädchen mit
       einem Tumor hat eine so geschwollene Zunge, dass sie nicht mehr schlucken
       kann. Ein anderes hat Verbrennungen auf der ganzen Haut und noch eine
       anderes Mädchen ist Vollwaise.
       
       Die Achtjährige ist ganz allein und du lässt sie stehen, weil sie ja nur
       eine Waise ist. Waisenkinder stehen hier ganz gewiss nicht im Vordergrund.
       Du versuchst ihren Blicken auszuweichen und schaust nach unten. Doch ein
       Kind neben dir steht barfuß im Schlamm, ein anderes hat gar keine Zehen.
       Dann gibt es plötzlich etwas Reis, keiner weiß, von wem gespendet. Ein Topf
       voller Reis! Der ganze Azadi-Park kommt augenblicklich zusammen. Alle
       drängeln, nebeneinander, übereinander, um an den Topf zu gelangen. Bis der
       Reis auf den Boden fällt.
       
       ## „Um lernen zu können, müssen Mädchen erst einmal leben“
       
       Die internationalen Hilfsorganisationen sind verschwunden. Sie wollen, dass
       sich die Taliban für die Achtung der Menschenrechte einsetzen und vor
       allem, dass die Schulen wieder für Mädchen öffnen. Für die gibt es jetzt
       nur noch Unterricht bis zur sechsten Klasse. „Aber um lernen zu können,
       müssen Mädchen erst einmal leben“, ruft eine Mutter. Sie ist eine
       derjenigen, die glauben, dass ihre Kinder hier im Park sicherer sind als im
       Krieg.
       
       Im Unterschied zu anderen islamistischen Bewegungen haben die Taliban nie
       ein eigenes Wohltätigkeitsnetzwerk aufgebaut. Sie sind vor allem Kämpfer.
       Und oft sind sie selbst genauso halb verhungert wie alle anderen hier.
       Einige der Taliban sind wie Spezialkräfte ausgebildet und ausgerüstet. Doch
       die meisten haben gerade mal eine Kalaschnikow und den Blick derer, die vom
       Leben selbst nichts erwarten. Wenn ein Flugzeug am Himmel auftaucht, halten
       sie instinktiv an, als wäre es ein Kampfjet, der im nächsten Moment Bomben
       wirft.
       
       Sie sind eine Art Robin Hood – unter den Armen, für die Armen. Aber welche
       Taliban werden sich durchsetzen? Diejenigen, die von ausländischen Mächten
       unterstützt werden oder diejenigen, die den Rückhalt von Afghanen haben?
       Schwer zu sagen. Sie haben keine Uniform. Und sie sind so unterschiedlich
       und in so viele Einheiten aufgeteilt, dass sie an Kontrollpunkten manchmal
       selbst stärker durchsucht werden als die Zivilisten. Sie haben Angst davor,
       dass Kämpfer des Islamischen Staates in die Hauptstadt eindringen. Um wie
       ein Talib auszusehen, muss man nur einen Turban tragen.
       
       Derweil können Afghanen nur versuchen, irgendwie über die Runden zu kommen.
       Die wichtigste Hilfe im Azadi-Park ist Abdel Mateen. Der 28-jährige
       Physiotherapeut hat sich ein Stethoskop um den Hals gehängt, sonst hat er
       aber wenig. Um Medikamente kaufen zu können, hat er den Schmuck seiner
       Mutter verscherbelt. Heute hat er nur noch Schmerzmittel und
       Covid-19-Impfstoff zu Verfügung. „Als ich den erhielt, konnte ich es nicht
       fassen“, sagt er. Aber ein Mann beschwert sich. Er habe Hunger und keine
       Ahnung, was Covid-19 ist. Der Binnenflüchtling ist Tag und Nacht hier.
       
       Der Mann ist auch hier, wenn der Azadi-Park abends im Dunkeln verschwindet.
       Das einzige Licht, das es dann hier gibt, sind die Scheinwerfer der Autos
       auf einer Straße in der Nähe. Zu Hören gib es hier dann nur noch Husten.
       Überall wird gehustet. Es ist wegen des Rauchs der Plastikflaschen, mit
       denen hier Feuer gemacht wird. Wer hier abends atmen will, muss frieren.
       
       Abdel Mateen bereitet eine Spritze vor für eine Frau mit hohem Fieber. Dann
       merkt er, dass sie sich seit einer Woche nur noch von Wasser ernährt hat.
       Also sucht er jetzt nach Zucker. Aber im nächsten Augenblick wird er schon
       belagert. Ein Mädchen mit Lungenentzündung kommt, dann noch eins und noch
       ein anderes, das nach Kabul kam, weil sein Oberschenkelknochen von einer
       Explosion zerschmettert wurde und an eine schwarze Schiene gebunden ist.
       Eigentlich ist es nur in ein Rohr gesteckt.
       
       Das Mädchen sagt, es habe überall Krämpfe. Doch Abdel Mateen hat nichts, um
       das Rohr aufzuschneiden. Im Mondlicht untersucht er das Röntgenbild, bevor
       er ihr Schmerzmittel verabreicht. Er flüstert nur: „Das Bein wird amputiert
       werden.“ Dann wiederholt er: „Nur wer in einem kritischen Zustand ist! Nur
       wer in einem kritischen Zustand ist, bekommt etwas!“ Doch es hat keinen
       Sinn. Wieder wird er belagert. Jeder hofft auf ein bisschen Brot, ein
       bisschen Glück. Einer Diabetikerin ist schwindelig, sie hat glasige Augen
       und hohen Blutdruck. Abdel Mateen fragt nach Knoblauch, er weiß im Moment
       nichts Besseres. Alle stülpen ihre Taschen nach außen. Es gibt keinen
       Knoblauch, im ganzen Azadi-Park gibt es keinen Knoblauch, nur ein
       Apfelscheibe.
       
       ## Sie zeigen Fotos ihrer Väter und Brüder und hoffen auf eine Ferndiagnose
       
       Andere zeigen ihm Bilder ihrer kranken Väter, Brüder, Cousins. Die sind
       nicht hier, sondern in ganz anderen Gegenden Afghanistans, wo es nicht nur
       wie hier an Medikamenten, sondern überhaupt an ärztlichem Personal mangelt.
       Jetzt wollen sie von ihm eine Ferndiagnose. Plötzlich nähert sich eine
       dürre Mutter, ihren Sohn im Arm. Er ist schon schwarz und blau. Sie sagt
       nichts, sie weiß, es ist schon zu spät.
       
       Ein Mann erzählt, der neue Chef der Zentralbank sei verspottet worden, weil
       er eine Kalaschnikow auf dem Schreibtisch liegen habe. Aber vom Ausland sei
       doch Afghanistans Wirtschaft eingefroren worden. Wer ist jetzt der blutige
       Killer?
       
       Ein kleiner Junge grüßt uns, als wir vorbeigehen. Die einzigen Fremden, die
       er je in seinem Leben gesehen hat, waren bewaffnete Männer. Der Junge ist
       eine Ausnahme. Normalerweise starren Kinder Fremde nur ausdruckslos an. Und
       merkwürdig, auch die Kleinen, erst wenige Monate alt, klammern sich nicht
       an ihren Vater, ihre Mutter. Sie haben schlicht keine Kraft. Irgendwann
       merkt man, dass sie einfach tot sind. Sie sind so klein, dass es statt
       eines weißen Leichentuchs nur eine Serviette braucht, um ihren Körper zu
       bedecken.
       
       Die internationale Gemeinschaft ist gespalten. Einige Regierungen glauben,
       dass die Wiederaufnahme der Hilfe eine Möglichkeit ist, um die Taliban zu
       beeinflussen und um sie zur Achtung der Menschenrechte zu zwingen. Andere
       glauben, die einzige Möglichkeit, die Taliban zu beeinflussen, bestehe
       darin, jede Hilfe zu stoppen.
       
       Was meinst du, frage ich den Mediziner Abdel Mateen. Er sieht mich an. Dann
       nimmt er sein Handy und zeigt mir ein Bild von seinem Haus. Es ist
       vollkommen leer. Sie haben alles verkauft. Das Haus selbst existiert auch
       nicht mehr. Es ist nur noch Schutt. Er sagt nur: „Was willst Du noch von
       uns?“
       
       Übersetzung aus dem Englischen: Sven Hansen
       
       18 Nov 2021
       
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