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       # taz.de -- Prozess gegen Flüchtlingsaktivist:innen: Auf die Hilfe droht die Haft
       
       > In Griechenland stehen ab Donnerstag 24 Flüchtlingshelfer:innen vor
       > Gericht. Darunter sind der Ire Seán Binder sowie die Syrerin Sarah
       > Mardini.
       
   IMG Bild: Sarah Mardini in Berlin 2019
       
       Berlin taz | Er hätte auch einfach wegbleiben können. Aber Seán Binder will
       sich nicht verstecken. Am Sonntag flog der ehemalige Rettungsschwimmer von
       London nach Athen, wenn es schlecht läuft, darf er Griechenland erst in
       einigen Jahren wieder verlassen. Binder ist einer von 24
       Flüchtlingshelfer:innen, denen ab Donnerstag in Mytilini auf Lesbos der
       Prozess gemacht wird. Es geht um lange zurückliegende Solidaritätsaktionen,
       ihnen droht teils jahrzehntelange Haft.
       
       „Wir erwarten einfach, dass die Behörden ihre eigenen Gesetze einhalten –
       die Pflicht zur Rettung, den Grundsatz der Nichtzurückweisung, das Recht,
       Asyl zu beantragen“, [1][schrieb Binder vor dem Verhandlungsbeginn auf
       Twitter].
       
       Der heute 27-jährige Ire hatte sich 2017 als Freiwilliger der griechischen
       NGO International Emergency Response Centre angeschlossen. Er hatte vor der
       griechischen Insel Lesbos nach Booten in Seenot Ausschau gehalten, um sich
       um mögliche Schiffbrüchige zu kümmern. Zu jener Zeit ertranken in dem
       Seegebiet Hunderte Menschen bei der Überfahrt aus der Türkei.
       
       2018 wird Binder zusammen mit 23 anderen Aktivist:innen, darunter die
       syrische Leistungsschwimmerin Sarah Mardini, verhaftet. Die Justiz warf
       ihnen unter anderem Spionage, Menschenhandel und die Mitgliedschaft in
       einer kriminellen Organisation vor. Nach mehr als drei Monaten in
       Untersuchungshaft werden Binder und Mardini am 5. Dezember 2018 gegen
       Kaution freigelassen.
       
       ## Justiz hält am Spionage-Vorwurf fest
       
       Die Justiz hält weiter an den Vorwürfen Spionage, Schlepperei und
       Mitgliedschaft in einem kriminellen Netzwerk fest. Kürzlich entschied die
       Staatsanwalt in Lesbos, einen Teil der Anklagepunkte – darunter
       „unrechtmäßige Nutzung von Funkfrequenzen“ – in einem eigenen Verfahren
       vorzuziehen. Für diese Anklagepunkte allein droht Binder eine Haftstrafe
       von bis zu fünf Jahren. Die Mitangeklagte Mardini ist mit einer
       Einreisesperre belegt – gegen sie wird am Donnerstag in Abwesenheit
       verhandelt.
       
       Es handele sich um eine „ungerechte und unbegründete Strafverfolgung, bei
       der ihnen sehr schwere Vorwürfe gemacht werden, die im Falle eines
       Schuldspruchs zu 25 Jahren Gefängnis führen können“, schreibt die
       Menschenrechtsorganisation Amnesty International zu dem Fall. Die Haltung
       des Staates gegenüber Seán Binder unter den Regierungen von Syriza und der
       Nea Dimokratia „verleumdet Griechenland international“, sagte
       Ex-Finanzminister Yannis Varoufakis.
       
       Derweil präsentierten die NGO Oxfam und der griechische Flüchtlingsrat eine
       Studie, die zeigt, dass nicht nur Helfer:innen, sondern auch
       [2][Geflüchtete in Griechenland] immer länger im Gefängnis bleiben. Seit
       2019 dürfen Asylbewerber*innen auch zwecks Überprüfung ihrer Identität
       für bis zu drei Jahre inhaftiert werden, Alternativen zur Haft müssen nicht
       mehr geprüft werden. Im Juni 2021 waren in Griechenland rund 3.000
       Migrant:innen inhaftiert, dies werde zum „De-facto-Standard“, so Oxfam.
       Sieben von zehn Migrant:innen ohne regulären Aufenthaltstitel – darunter
       Schwangere und Kinder – würden in Verwaltungshaft genommen und blieben auch
       dann inhaftiert, wenn sie einen Asylantrag stellen. Jede:r fünfte
       Inhaftierte werde länger in Polizeizellen festgehalten, wo sie eigentlich
       nur wenige Stunden bleiben sollten.
       
       46 Prozent der inhaftierten Migrant:innen bleiben mehr als sechs Monate
       in Verwaltungshaft. „Die Verwaltungshaft soll Menschen davon abhalten, in
       Europa Schutz zu suchen. Deshalb wird sie zur Regel gemacht, statt eine
       Ausnahme zu bleiben,“ sagt Vasilis Papastergiou vom Griechischen
       Flüchtlingsrat. Das sei „moralisch untragbar“ und ein Rechtsverstoß.
       
       18 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://twitter.com/sean_binder_/status/1460599216280059915
   DIR [2] /Gefluechtete-vor-Gericht-in-Griechenland/!5810493
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
       
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