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       # taz.de -- Artenvielfalt in Klimakrise: Biodiversität mitdenken
       
       > Die Ökosystemkrise muss ins Bewusstsein der Bevölkerung gelangen. Das
       > bedeutet für die Ampel-Koalition, den Fortschritt neu zu definieren.
       
   IMG Bild: Zwei Schachbrettfalter
       
       Zu gern wüsste man, ob sich die Koalitionäre was Schlaues ausdenken und
       Deutschland fit für den [1][Klimawandel] machen. Also nicht nur die
       erneuerbaren Energien ausbauen, wie es die Koalitionsverhandelnden haben
       durchblicken lassen, denn das reicht ja nicht aus. Herrgott noch mal, das
       wussten wir ja auch alle schon vor der Wahl, als der eine „Klimakanzler“
       werden wollte und die andere eine „Klimaregierung“ versprach.
       
       Doch in den Koalitionsverhandlungen beklagen sich die Grünen, dass Klima
       eben nicht „Chefsache“ sein wird, sondern sie SPD und FDP jedes bisschen
       Klimaschutz abverhandeln müssen, als sei der Klimawandel ein
       linksalternatives Projekt. Zwei Prozent des Landes soll mit
       Windenergieanlagen bebaut werden, von denen niemand sagen kann, wo diese
       rund 10.000 Quadratkilometer Landesfläche eigentlich herkommen sollen.
       
       Die Ankündigung ist weder innovativ noch überraschend, denn nach
       beschlossenem [2][Atom-] und [3][Kohleausstieg] lag der Umbau des
       Energiesystems in der Luft. Wir wissen also noch nicht, ob die zukünftigen
       Koalitionäre das offenkundig nicht mehr gut funktionierende
       Gesundheitssystem reformieren und für Heißzeiten und Pandemien wappnen. Ob
       sie das Verkehrssystem so umbauen, dass Elektroautos selbst in der Gegend
       herumfahren und Menschen dort einsammeln, wo sie sind.
       
       Ob sie also die Mobilität der Gesellschaft fördern und nicht den privaten
       Besitz [4][PS-starker und teurer E-Autos]. Ob sie Schulen und Hochschulen
       ausbauen, an denen junge Leute aus allen gesellschaftlichen Schichten und
       allen finanziellen Hintergründen Wissen erwerben und mehren, mit dem sie
       sich an den Klimawandel anpassen können. Ach, die Liste all der
       systemrelevanten Felder ist lang, die die zukünftige Koalition
       klimawandeltauglich reformieren muss.
       
       ## Verhandlungen ohne Natur
       
       Und sie muss die Klimapolitik mit dem noch viel größeren, lebenswichtigen,
       allumfassenden Thema verbinden, über das niemand spricht: mit dem Erhalt
       der biologischen Vielfalt. Auf die Biodiversitätskrise hat die Ampel keine
       Antworten. Sie beschäftigt sich gar nicht erst mit Natur und Ökosystemen,
       und dass diese unfassbare Realitätsverleugnung durch die Poren der
       Verhandlungsräume nach außen sickerte, zeugt von dem Maß des Entsetzens
       einiger Verhandler, die sie nun öffentlich machten.
       
       SPD und FDP begreifen kaum die Dimension des Klimawandels und der
       politischen Entscheidungen, die sie mit den Grünen fällen müssen. Die Krise
       der Ökosysteme sprengt die Vorstellungskraft aller drei Parteien. Beim
       Thema Natur geht es nicht mehr um den Schutz einer Orchideenwiese oder den
       Erhalt von 40 Quadratmeter Feuchtbiotop am Rande eines Gewerbegebiets,
       sondern es geht darum, eine politische Antwort auf den drohenden
       Zusammenbruch von Ökosystemen zu finden.
       
       Ökosysteme wie ein Wald oder ein Fluss sorgen für Trinkwasser und kühlende
       Luft, sie filtern Feinstaub, verarbeiten bis zu einem bestimmten Maß
       Chemikalien und anderen Dreck der menschlichen Lebensweise, beherbergen
       bestäubende Insekten, Pilze, Kleinstlebewesen, die die Bäume, Tiere, kurzum
       die Natur am Laufen halten. Ökosysteme versorgen uns mit den
       Ökosystemdienstleistungen, ohne die uns auch Elektroautos und grüner Strom
       nicht durch den Klimawandel helfen.
       
       Vielleicht bilden sich die Koalitionäre, die Beamten und die politischen
       Technokraten rund um die nächste Bundesregierung noch allesamt ein, dass
       Technik ausreicht, um die Klimakrise abzuwenden oder uns an die
       Erderwärmung anzupassen. Technik hilft nicht, um die Krise der biologischen
       Vielfalt zu mindern. Im Gegenteil.
       
       Ökosysteme wie ein natürlicher Wald mit lebenden, alten und toten Bäumen,
       ein frei fließender Fluss mit umspülten Ufern und Auen, ein Moor oder eine
       Magerwiese arbeiten dann am besten, wenn der Mensch sich raushält.
       Raushalten bedeutet aber auch: keine industrielle Nutzung, kein
       Infrastrukturprojekt. Deutschland ist ein Industrieland. Daraus bezogen
       dieses Land und der Großteil seiner Bewohner jahrzehntelang Wohlstand und
       Selbstverständnis. Aber Deutschland hat es übertrieben mit der
       Naturzerstörung.
       
       ## Kein Recht auf Einfamilien-Neubau
       
       So sind viele Flüsse so stark umgebaut, dass mittlerweile die Flusssohlen
       ins Grundwasser durchbrechen können. Das seit 40 Jahren sinkende
       Grundwasser würde dann in manchen Regionen von ungefiltertem Wasser
       verschmutzt. In funktionierenden Fluss-Ökosystemen reinigt das Sediment der
       Flusssohle das Wasser, bevor es in das Grundwasser strömt. Dieser
       natürliche Prozess kann nicht technisch nachgebaut werden.
       
       Weltklimarat und der Weltbiodiversitätsrat IPBES appellieren, Klimakrise
       und Biodiversitätskrise zusammenzudenken. Dazu gehört, keine
       Windenergieanlagen in Naturschutzgebieten oder in Wäldern aufzustellen. Es
       bedeutet, keine weiteren Autobahnen zu bauen und auch die Bestehenden nicht
       zu verbreitern.
       
       Erderwärmung und Artensterben zusammenzudenken bedeutet, den Menschen zu
       sagen, dass niemand ein Anrecht auf ein neu gebautes Eigenheim auf einer
       ehemaligen Wiese hat, dass Parkplätze zu Parks werden, Äcker einen 20 Meter
       breiten Strauchstreifen bekommen, keine weiteren Logistikzentren, keine
       Einkaufzentren, keine Wassersporthäfen gebaut werden.
       
       Nicht die Eigenheimzulage bringt Wohlstand, nicht die E-Auto-Prämie fördert
       die ökologische Verkehrswende, nicht der Bau von Batteriefabriken in
       Wasserschutzgebieten steigert unsere Fähigkeit, uns an den Klimawandel
       anzupassen. Schon dieser Text zeigt, wie schwierig es ist, eine positive,
       bejahende Vision für die Biodiversitätskrise zu formulieren. Alles muss
       anders werden, damit es gut wird.
       
       Die Ökosystemkrise zwingt zu alternativlosem Handeln, sie zwingt zu einem
       „Systemwechsel“, wie die Wissenschaftler des Weltbiodiversitätsrats sagen.
       Die Ökosystemkrise ins Bewusstsein zu lassen, bedeutet für die über eine
       Koalition Verhandelnden, den Fortschritt neu zu definieren.
       
       18 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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