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       # taz.de -- Sexueller Missbrauch: Auch Mütter unter den Tätern
       
       > Nicht nur Komplizinnen oder Mitläuferinnen: Eine neue Studie zeigt, dass
       > Frauen häufiger sexualisierte Gewalttaten an Kindern begehen, als bisher
       > angenommen.
       
   IMG Bild: Eine Mutter liebt, nährt und schützt ihr Kind, so die gängige Rollenzuschreibung
       
       Was ist mit dieser Mutter los?“, so fragte 2018 nicht nur die Süddeutsche
       Zeitung, [1][als in Baden-Württemberg eine Mutter und ihr Lebensgefährte
       vor Gericht standen – wegen gewerbsmäßig organisierter sexueller Ausbeutung
       eines neunjährigen Jungen]. Der mehrfach vorbestrafte pädosexuelle
       Stiefvater passte ins gängige Bild eines Sexualstraftäters. Aber eine
       Mutter, die ihr eigenes Kind vergewaltigt und im Internet an zahlende
       Männer verkauft?
       
       Das Entsetzen über den Staufener Missbrauchsfall war auch deshalb so groß,
       weil die Brutalität und Empathielosigkeit dieser Mutter ein
       gesellschaftliches Tabu infrage stellte: das der Mutterliebe. Eine Mutter
       liebt, nährt und schützt ihr Kind, so die gängige Rollenzuschreibung.
       Vielleicht versagt sie in ihren Aufgaben, aufgrund eigener Schwäche
       [2][oder falscher Loyalität zum Partner]. Der eigentliche Vergewaltiger
       aber, der sich gezielt eines Kindes bedient, um Macht und Erregung zu
       spüren, ist stets ein Mann. Oder?
       
       Hellfeld- und Dunkelfeldstudien stellen die gesellschaftliche Idealisierung
       der Mutterrolle schon länger infrage. So belegen Untersuchungen über
       körperliche Misshandlung von Kindern, dass Mütter mindestens ebenso häufig
       Gewalt gegen ihre Kinder anwenden wie Väter. Was Taten des sexuellen
       Kindesmissbrauchs angeht, so beträgt der Anteil der Täterinnen laut einer
       2020 veröffentlichten [3][Studie der Aufarbeitungskommission] 10 Prozent.
       Aus nachträglichen Befragungen Erwachsener zu sexuellen Erlebnissen im
       Kindesalter, sogenannten Dunkelfeldstudien, ergibt sich ein Anteil
       weiblicher Täterinnen zwischen 10 und 20 Prozent.
       
       Die liebende Mutter 
       
       Expert:innen gehen allerdings davon aus, dass die tatsächliche Zahl der
       Täterinnen noch um einiges höher ist: Statistisch finden [4][die meisten
       sexuellen Übergriffe auf Kinder im familiären Rahmen statt] – da aber
       das Bild der Familie als Schutzraum und insbesondere der liebenden Mutter
       noch immer allgegenwärtig ist, werden entsprechende Taten von Frauen nicht
       erkannt oder bagatellisiert: Man traut ihnen diese Taten schlicht nicht zu.
       
       Auch im Fall Staufen war das so: Das Jugendamt und das Familiengericht
       ließen den Jungen nach einer Inobhutnahme erneut bei der Mutter leben: Sie
       stuften sie, entgegen aller Alarmzeichen, als vertrauenswürdig ein. Obwohl
       sie nach dessen Haftentlassung wieder mit ihrem pädosexuellen Partner
       zusammenlebte, entgegen einer Auflage des Gerichts. Selbst noch als das
       Paar vor Gericht stand und sich abzeichnete, dass die Mutter in eigener
       Regie und mit erheblicher Gewaltanwendung ihren Sohn gequält hatte,
       verwendeten die berichterstattenden Medien bemerkenswert viel Energie
       darauf, die Mutter als psychisch instabile, intelligenzgeminderte und dem
       Lebensgefährten hörige Person zu zeichnen.
       
       „Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind lückenhaft“, stellen
       Forscher:innen vom Institut für Sexualforschung und Forensische
       Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg- Eppendorf (UKE) zum Thema
       Frauen als Missbrauchstäterinnen fest. In einer kürzlich vorgelegten
       Studie, finanziert von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung
       sexuellen Kindesmissbrauchs in Berlin, versucht das Team um den
       Sexualwissenschaftler Peer Briken, einige Forschungslücken zu schließen.
       Unter anderem war ihr Ziel, Wissen zu sammeln über „noch nicht straffällig
       gewordene Frauen mit pädophilen Interessen oder anderen Motiven,
       sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen zu begehen“.
       
       Die Studie [5][„Sexueller Kindesmissbrauch durch Frauen“] lief ab Januar
       2020 bis Ende Juni 2021. Befragt wurden, online und anonym, 212 Personen im
       Alter von 18 bis 78 Jahren, die angaben, vor ihrem 16. Lebensjahr sexuelle
       Gewalt durch Frauen erlebt zu haben. Parallel dazu lief eine
       Onlinebefragung unter Frauen, die sich nach eigener Auskunft sexuell zu
       Kindern hingezogen fühlen. Auch wenn Letztere als nicht repräsentativ
       gelten kann, weil lediglich 52 Stichproben voll ausgewertet werden konnten:
       Eine erste Erkenntnis aus beiden Befragungen lautet, dass es eben nicht nur
       „Komplizinnen“ oder Mittäterinnen gibt, wie bislang angenommen – sondern
       auch Frauen mit pädophilen Interessen oder anderen eigenen Motiven,
       sexualisierte Gewalttaten an Kindern und Jugendlichen zu begehen.
       
       Eltern als Täter:innen 
       
       Im Detail sind die Studienergebnisse erschütternd: So gaben 62 Prozent der
       Befragten, von denen sich 60 Prozent als weiblich identifizierten, an, dass
       ihre Mutter die Täterin war, 52 Prozent gaben den Vater als Täter an. Die
       Übergriffe begannen meist früh in der Kindheit und dauerten oft jahrelang
       an. 56 Prozent der Befragten erlebten zusätzliche Übergriffe durch einen
       Mann, 11 Prozent durch weitere Familienmitglieder. Und ganze 51 Prozent
       gaben an, der Missbrauch habe durch „organisierte Tatpersonengruppen“
       stattgefunden.
       
       [6][Die erlebten Formen sexualisierter Gewalt] reichten demnach von
       unerwünschten intimen Berührungen über Pornokonsum mit gegenseitiger
       Masturbation bis zur Vergewaltigung mit Gewaltanwendung, wobei 20 Prozent
       der Befragten angaben, durch Alkohol und/oder Drogen gefügig gemacht worden
       zu sein. 60 Prozent der Befragten gaben an, neben der sexualisierten auch
       körperliche Gewalt erlebt zu haben. Nur „einige wenige“ nannten als
       Strategie der Täterin den Vorwand der Fürsorge und Körperpflege, dafür
       berichteten 88 Prozent von psychischer Gewalt wie Drohungen, Demütigungen
       und Beschimpfungen.
       
       Diese Befunde sind insofern bemerkenswert, als bisher angenommen wurde,
       dass weibliche sexuelle Gewalt meist unter dem Deckmantel der
       „praktizierten Mutterliebe“ daherkomme. Die neuen Erkenntnisse zeigen
       allerdings, dass weibliche Täterinnen kaum sanfter agieren als Männer. In
       knapp einem Fünftel der Fälle, so die Antworten der Befragten, habe die
       Täterin Bildmaterial mit Missbrauchsdarstellungen selbst angefertigt. In 10
       Prozent der Berichte war von sadistischer Gewaltanwendung durch die Täterin
       die Rede, in 2 Prozent auch von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen
       Ausbeutung. Mehr als zwei Drittel der Befragten gaben zudem an, von der
       Täterin vermittelt bekommen zu haben, sie selbst seien schuld an der
       sexualisierten Gewalt. Dass victim blaming einen besonderen Anteil an
       negativen Langzeitfolgen bis hin zu Posttraumatischen Belastungsstörungen
       habe, heben die Forscher:innen als lohnendes Thema für weitere
       Untersuchungen vor.
       
       Nur wenige verurteilt 
       
       Trotz Einschüchterungen und Manipulationen legten drei Viertel der
       Befragten ihre Erlebnisse irgendwann offen, wobei nur 10 Prozent von ihnen
       [7][Anzeige erstatteten] – im Mittel 30 Jahre nach der letzten Tat. Nur 9
       Prozent der Täterinnen wurden anschließend verurteilt. Hier vermuten die
       Forscher:innen einen Zusammenhang zur Unkenntnis über weibliche
       Täterinnen – wozu auch die Annahme gehört, dass Frauen eher
       „Mitläuferinnen“, also gewissermaßen die harmloseren Täterinnen sind.
       
       Die Soziologin Barbara Kavemann, die seit mehreren Jahrzehnten zu
       häuslicher Gewalt sowie sexualisierter Gewalt gegen Kinder forscht, hält
       dies für einen Fehlschluss. Bereits 2019 stellte sie im Gespräch mit dem
       Magazin Chrismon fest: „Bei organisiertem Missbrauch sind viele Frauen in
       den Strukturen“ – als Organisatorinnen und Profiteurinnen spielten sie
       nicht selten eine gewichtige Rolle.
       
       Die aktuelle Hamburger Studie bestätigt diese Einschätzung. Die
       Autor:innen der Studie teilen die Täterinnen in vier Typen ein: die
       sadistische Täterin, die ein starkes Ausmaß an Gewaltanwendung zeigt, die
       sogenannte parentifizierende Täterin, die in den betroffenen Kindern und
       Jugendlichen einen Ersatz für erwachsene Sexualpartnerinnen und -partner
       sieht, die vermittelnde Täterin, die Kinder dritten Tatpersonen zuführt,
       und die instruierende Täterin, die oft im Kontext von organisierten
       Gewaltstrukturen auftritt.
       
       Die Forscher:innen räumten auch noch mit einer anderen, verbreiteten
       Fehlannahme auf: Dass Pädophilie, im klinischen Sinne als eine Störung der
       Sexualpräferenz, ein rein männliches Phänomen sei: Von den 52 befragten
       Frauen, die sich sexuell für Kinder interessierten, gaben 58 Prozent an,
       zur eigenen Erregung Missbrauchsdarstellungen mit 5- bis 10-jährigen
       Kindern zu konsumieren – rund 60 Prozent der Befragten zeigten Hinweise auf
       eine pädophile Störung. Wie die Autor:innen der Studie selbst
       einräumten, ist die vorliegende Stichprobe aber noch zu klein, um voll
       aussagekräftig zu sein. So könnten sich auch Männer als Frauen ausgegeben
       haben. Oder aber es könnte sich bei dem festgestellten Verhalten eher um
       ein zwanghaftes Sexualverhalten mit suchtähnlichem Charakter handeln.
       
       Die Erkenntnisse des Forschungsprojekts sind nur ein erster Blick in
       weitgehend unbekanntes Terrain. Um eine bessere Prävention und Versorgung
       der Betroffenen zu ermöglichen, fordern die Autor:innen der Studie ein
       Ende der Tabuisierung. Durch weitere Forschung, Aufklärung der
       Öffentlichkeit und Fortbildung von Fachleuten aus Pädagogik, Sozialarbeit,
       Medizin, Polizei und Justiz könnte ein realeres Bild von weiblichen
       Täterinnen entstehen.
       
       19 Nov 2021
       
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   DIR [4] /Sexuelle-Gewalt-gegen-Kinder/!5676871
   DIR [5] https://www.aufarbeitungskommission.de/wp-content/uploads/Sexueller-Kindesmissbrauch-durch-Frauen_Zusammenfassung_bf.pdf
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