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       # taz.de -- Deutschland in der Coronakrise: Allenfalls aus Schaden klug
       
       > Wir stecken mitten in einer Coronawelle: Die Betten auf den
       > Intensivstationen sind voll, das Pflegepersonal überlastet. War da nicht
       > was?
       
   IMG Bild: Hier ist die Krankenhausampel schon auf Rot: Intensivpflegerinnen im bayrischen Schwabmünchen
       
       Und jährlich hustet das Seuchentier. Der Radiowecker weckt uns im November
       2021 mit dem altbekannten Pandemielied „I Got You Babe“, und wir erleben
       ein krasses Déjà-vu.
       
       Die Ereignisse des Jahres 2020 wiederholen sich in Dauerschleife: Im Sommer
       ist alles gut, die Menschen bewegen sich froh im Freien, die Inzidenz ist
       niedrig, die Leute sterben wieder vermehrt an Drogen, Softeis und
       Badeunfällen; die Virologen erinnern daran, sich für den Herbst zu wappnen,
       die Politik macht Urlaub. Im Spätsommer und Frühherbst mahnen die Mediziner
       verstärkt, die Politik wiegelt ab. Im Spätherbst sagen die Fachleute: „Wir
       haben es ja gesagt“, die Politik fragt: „Was denn?“. Im Winter resigniert
       die Wissenschaft und die Politik gerät in Panik. Also „same procedure as
       last year, Miss Sophie?“. Anlass für eine Bestandsaufnahme: Was ist gleich,
       was ist ähnlich, was ist anders als vor einem Jahr?
       
       Dank der Impfungen gibt es bislang weniger Tote und Schwererkrankte als
       2020, doch die Intensivstationen laufen voll. Und die Lage in den
       Krankenhäusern droht noch weitaus angespannter zu werden, da viele
       Pflegekräfte mittlerweile frustriert gekündigt haben. So ist es nur eine
       Frage der Zeit, wann clevere Checker wieder Bilder von leeren Betten in
       leeren Krankenzimmern posten: Seht her, ihr Bürger, alles Lüge; es ist noch
       jede Menge Platz auf den Stationen.
       
       Platz ja, aber kein Personal. Und wo kein Personal, da keine Behandlung.
       Ein Bett ist erst mal einfach nur ein Bett. In einem Bett kann man
       schlafen, lesen und fernsehen. Man kann darin krümeln, vögeln und vor allem
       sterben. Um darin gepflegt zu werden, bedarf es zusätzlicher Hilfe.
       
       Die wird zurzeit allerdings oft nur mit Murren in Anspruch genommen. Wo im
       November ’20 dankbare Patienten um Luft rangen, konzentrieren sich laut
       Aussagen von Ärzten und Pflegekräften nun statistisch zwangsläufig die
       schwierigen Charaktere: die Renitenten, die Unkooperativen, die Zweifler,
       die Ungeimpften.
       
       ## Die Lernfähigkeit eines toten Meerschweinchens
       
       Einige sterben mit einem Fluch auf den Lippen – das ist so wenig Grund zum
       Spott, wie wenn sich jemand totgeraucht, totgesoffen oder aus eigenem
       Verschulden mit dem Auto um den Baum gewickelt hat, sondern tragisch,
       überflüssig und dumm zugleich. Aber man kann die Leute ja nicht ein Leben
       lang rund um die Uhr betreuen oder in Heime für schwer erziehbare
       Erwachsene stecken.
       
       In Spanien, Portugal, Italien – überall da, wo es harte Lockdowns und viele
       Tote gab – wird sehr konsequent geimpft, was sich vorteilhaft auf die
       Fallzahlen auswirkt. Nicht so aber in Dummland. Dort hat man die
       Lernfähigkeit toter Meerschweinchen. Dummland hat im bisherigen Verlauf der
       Pandemie relativ viel Glück gehabt, das Präventionsparadox in Verbindung
       mit geringer Frustrationsresilienz gerade auch der weniger Betroffenen
       ([1][Schauspielerinnen, Großschriftsteller]) stellt dieses Glück nun erneut
       auf eine harte Probe.
       
       Denn in Dummland wird man allenfalls aus Schaden klug (Erster Weltkrieg),
       und das sehr langsam (Zweiter Weltkrieg) oder leider oftmals überhaupt
       nicht (AfD, Corona). Die heiße Herdplatte weist bei uns schon abgegriffene
       Stellen auf, den vorigen Winter hat man schlicht vergessen.
       
       Wie vor einem Jahr bollert der Sensenmann auch heuer besonders laut an die
       Türen der Pflege- und Seniorenheime und holt sich Ungeboosterte und
       Vorerkrankte, wo er im Vorjahr unter völlig Ungeschützten mähte. Gevatter
       Tod trägt bunte Crocs. [2][Gerade in der Altenpflege beträgt die Impfquote
       unter den Beschäftigten oft nur um die fünfzig Prozent]. Christine Vogler,
       Präsidentin des Deutschen Pflegerats, freut sich dennoch, dass sich die
       Pflegenden „[3][ihrer Verantwortung für die Patienten absolut im Klaren]“
       seien. Das ist ja schön, aber warum kommen sie dieser Verantwortung dann
       nicht nach?
       
       Weil sie auf einmal entdeckt haben, was für wunderbar freie Menschen sie
       sind. Mit Grundrechten wird in diesem Land zwar traditionell gern nach
       Gutsherrenart verfahren, ob beim Thema Abtreibung, Staatsbürgerschaft,
       Asylrecht, Homo-Ehe oder Betäubungsmittel, doch daran hat sich stets nur
       eine Minderheit gestört. Plötzlich aber pochen alle auf ihr Recht zum
       Beispiel auf Nicht- und Fehlinformation, doch dahinter steckt lediglich
       verdruckster Trotz, der schnell dem üblichen Opportunismus Platz macht.
       
       ## Dieses Jahr on top: die Grippe
       
       Denn kaum gilt in Sachsen 2G, lassen sich die „Impfskeptiker“ in Massen
       impfen. Diese Busspurraser des Lebens wollen schließlich in die Kneipe. So
       gefährlich ist der Impfstoff dann wohl auch wieder nicht, oder wiegt ein
       Bier vom Fass die sagenhaften „Langzeitfolgen“ auf?
       
       Die Uneinigkeit ist schlimmer als vor einem Jahr. Die Gräben sind tief, in
       ihnen planschen die Krokodile des Starrsinns. Demos gegen Coronamaßnahmen
       heißen jetzt „Spaziergänge“ und richten sich nun vermehrt gegen Impfungen
       sowie 2G- und 3G-Regelungen. Nicht geändert hat sich dabei die pauschale
       Kritik an Maßnahmen jeglicher Art.
       
       Ebenfalls gleich geblieben ist die dumpfe Ahnung, dass wir uns früher oder
       später unweigerlich infizieren werden. Nur der Grund hat sich geändert,
       denn vor einem Jahr lag es am fehlenden Impfstoff und nun liegt es am
       fehlenden Hirn. Neu ist obendrein, dass man im Rahmen eines Impfdurchbruchs
       eher darauf hoffen kann, einen milden Verlauf zu erwischen: „Nur eine
       Grippe“ – hier hätten die Ungeimpften einmal recht, zumindest was die
       Geimpften betrifft.
       
       Apropos Grippe. Im Unterschied zu 2020 wird es eine heftige Influenzawelle
       geben. Und zwar on top. Das Grippevirus, das voriges Jahr den
       Hygienemaßnahmen zum Opfer fiel, hat nur ordentlich Anlauf genommen.
       
       Alle Jahre wieder stellt sich auch die Unsicherheit vor den Feiertagen ein:
       Kann man an Weihnachten die frisch geboosterten Alterchen besuchen, können
       wir die Freunde treffen, werden wir Silvester feiern und wie soll man unter
       diesen Umständen den Zug buchen? Vor einem Jahr fiel alles flach – die
       Ahnung darum kumulierte im Verlauf des Dezembers zur Gewissheit. Damit
       rechne ich nun auch im kommenden Monat wieder, „same procedure as every
       year, James!“.
       
       12 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /allesaufdentisch-vs-Youtube/!5804084
   DIR [2] https://www.rbb24.de/studiofrankfurt/panorama/coronavirus/beitraege_neu/2021/10/werbellin-barnim-altenheim-corona-ausbruch.html
   DIR [3] https://www.spiegel.de/kultur/tv/anne-will-mit-markus-soeder-der-absolute-ultraquatsch-der-impfgegner-a-219c1737-6332-4ead-8b7d-8debd1447691
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uli Hannemann
       
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