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       # taz.de -- Holocaust-Überlebende wird 100: „Eine beeindruckende Versöhnerin“
       
       > Margot Friedländer wird 100 Jahre alt. Ihre Eltern wurden deportiert und
       > ermordet, sie überlebte im Untergrund – und wohnt wieder in Berlin.
       
   IMG Bild: „Ich kann mir vorstellen, dass meine Mutter gebetet hat, dass ich es schaffe“: Margot Friedländer
       
       Berlin epd | Eine zierliche alte Dame, elegant gekleidet, mit großen wachen
       Augen unter dem widerspenstigen weißen Haar, nimmt auf dem Podium Platz.
       Wenn [1][Margot Friedländer zu sprechen beginnt], von ihrem Leben erzählt,
       vergisst man ihr hohes Alter sofort. Spielend zieht sie ihre Zuhörerschaft
       in den Bann. So auch Mitte Oktober, als im Roten Rathaus in Berlin ein
       Bildband vorgestellt wird mit Porträts der Zeitzeugin an Orten, die für ihr
       Leben bestimmend waren. Der Titel: „Ich lieb' Berlin“.
       
       Es ist eine fotografische Liebeserklärung an die Stadt, in der Margot
       Friedländer vor 100 Jahren, am 5. November 1921, zur Welt gekommen ist.
       Doch in vielen Porträts spiegelt sich auch das unfassbare Leid, das die
       Jüdin erfahren musste. Die Eltern und ihr Bruder wurden Opfer der Schoah,
       sie selbst versteckte sich über viele Monate im Untergrund in Berlin,
       überlebte das Konzentrationslager Theresienstadt.
       
       Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Margot Friedländer mit ihrem Mann
       nach New York gegangen, sie besitzt die amerikanische Staatsbürgerschaft.
       Erst 2003 besuchte sie erstmals wieder ihre Geburtsstadt, 2010 kehrte sie
       endgültig nach Berlin zurück. Sie sagt über ihre frühe Kindheit: „Ich bin
       so froh, in einer so schönen Stadt geboren zu sein, ich war so glücklich
       hier zu sein, ich konnte atmen, es war mein Berlin.“
       
       Geboren wurde sie als Margot Bendheim in Berlin-Kreuzberg und wuchs in
       einer wohlhabenden jüdischen Familie auf. Ihr Vater Artur Bendheim besaß
       ein Geschäft im Modeviertel am Hausvogteiplatz. Ab 1933 emigrierten nach
       und nach viele Verwandte und Freunde. Margot Friedländers Vater, der im
       Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, entschloss sich erst 1939, in letzter
       Minute, nach Belgien zu fliehen. 1942 wurde er in Auschwitz ermordet.
       
       Nach ihrer Schulzeit besuchte Margot eine Modezeichenschule. Als sich die
       Eltern 1937 scheiden ließen, begann sie eine Schneiderlehre. Mit der Mutter
       und ihrem jüngeren Bruder zog Margot zunächst in eine Pension am
       Ludwigkirchplatz in Berlin-Wilmersdorf, ab 1939 lebte die Familie bei den
       Großeltern mütterlicherseits.
       
       1941 wurden sie in eine sogenannte „Judenwohnung“ in der Skalitzer Straße
       eingewiesen. Die beiden Frauen waren nicht zu Hause, als Ende Januar 1943
       die Gestapo klingelte und den Bruder abholte. Daraufhin stellte sich die
       Mutter freiwillig der Polizei, sie wollte den Sohn nicht allein gehen
       lassen. Beide wurden nach Auschwitz deportiert und ermordet.
       
       Kurz zuvor hatte die Mutter einer Nachbarin eine Handtasche mit einer
       Bernsteinkette und einem Notizbuch für Margot übergeben. Ihre Botschaft an
       die Tochter: Versuche, dich zu retten. Jahrzehnte später erinnert sich
       Margot Friedländer: „Ich könnte mir vorstellen, dass meine Mutter dachte,
       ich sei stark genug. Ich war vielleicht sogar als junges Mädchen
       draufgängerisch. Ich kann mir vorstellen, dass meine Mutter gehofft und
       gebetet hat, dass ich es schaffe.“
       
       Sie war 21 Jahre alt, riss sich den Judenstern vom Mantel, färbte sich die
       Haare rot, ließ sich sogar die Nase operieren und tauchte unter. 16
       Menschen, zählt sie, hätten ihr geholfen, immer wieder neue Verstecke zu
       finden. „Sie haben immer versucht, mir ein Bett zu geben, mir ein Essen zu
       geben. Man brauchte nicht mit den Menschen politisch über Bücher, Musik
       sprechen. Man hat gekämpft, um zu überleben – diese Menschen auch.“
       
       ## 15 Monate im Untergrund
       
       15 Monate lang lebte sie im Untergrund mit ständig wechselnden
       Aufenthaltsorten. Die Kette und das Notizbuch von ihrer Mutter behielt sie
       immer bei sich. Auch noch, als sie im April 1944 bei einer Ausweiskontrolle
       auf dem Kurfürstendamm sogenannten jüdischen „Greifern“ ins Netz ging und
       ins KZ Theresienstadt deportiert wurde.
       
       Hier traf sie ihren späteren Mann, Adolf Friedländer, den sie bereits aus
       Berlin kannte. Beide überlebten und ließen sich im Frühsommer 1945, noch im
       Lager, von einem Rabbi trauen. 1946 emigrierte das Paar in die USA. Adolf
       Friedländer wollte nie wieder deutschen Boden betreten.
       
       Nach dem Tod ihres Mannes besuchte Margot Friedländer einen Kurs im
       „Memoirenschreiben“. Unter dem Titel „Versuche, dein Leben zu machen“
       veröffentlichte sie ihre Autobiografie, die 2008 auch auf Deutsch erschien.
       2010 entschied sie sich, nach Berlin zurückzuziehen.
       
       Seither hat Margot Friedländer in Schulen und auf unzähligen
       Veranstaltungen über ihr Leben gesprochen. Ihre Mission, so sagt sie, ist
       das Weitergeben ihrer Geschichte insbesondere an junge Menschen. „Ich
       spreche für die, die es nicht geschafft haben“, betonte sie bei der
       Buchvorstellung im Roten Rathaus, „was ich jetzt mache, ist für die Jugend.
       Sie soll wissen: Was war, das können wir nicht mehr ändern, aber es darf
       nie wieder geschehen.“
       
       Margot Friedländer hat viele Preise erhalten, [2][ist Ehrenbürgerin
       Berlins]. Seit 2014 trägt ein Preis ihren Namen und wird an Jugendliche
       vergeben, die sich mit dem Holocaust auseinandersetzen, gegen
       Antisemitismus, Rassimus und Ausgrenzung engagieren.
       
       Zahlreiche Politiker*innen gratulierten Friedländer zu ihrem 100.
       Geburtstag. Etwa Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU): „Als eine
       der letzten Holocaustüberlebenden setzt sich Margot Friedländer als
       Zeitzeugin unermüdlich dafür ein, dem Vergessen entgegenzuwirken“, betonte
       die Ministerin am Donnerstag in Berlin. Friedländers Einsatz sei eine
       Mahnung, die Erinnerung lebendig zu halten und aufzustehen gegen
       Antisemitismus, „wo immer wir ihn wahrnehmen“.
       
       Dennis Buchner (SPD), der am Donnerstag neu gewählte Präsident des Berliner
       Abgeordnetenhauses, erklärte: „Margot Friedländer, diese beeindruckende
       Versöhnerin, ist wahrlich ein Geschenk für unsere Stadt.“ Die Berlinerinnen
       und Berliner, die Margot Friedländer schon einmal begegnet sind, wüssten,
       welchen „starken Eindruck sie mit ihrer ganzen Persönlichkeit hinterlässt“.
       
       Und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schrieb ihr: „Unermüdlich
       nehmen Sie es auf sich, von den Schrecken der Vergangenheit zu erzählen und
       so dazu beizutragen, dass das, was passiert ist, nie wieder passiert“,
       heißt es in einem am Mittwoch vom Bundespräsidialamt veröffentlichten
       Schreiben.
       
       Bis heute hat Friedländer ihre amerikanische Staatsbürgerschaft behalten,
       beerdigt werden möchte sie in den USA, an der Seite ihres Mannes. Doch
       jetzt will sie erstmal ihren 100. Geburtstag feiern – mit 100 Gästen. Auf
       die Frage, als was sie sich heute empfinde, antwortet die 100-Jährige: „Als
       Berlinerin natürlich, gar keine Frage.“
       
       4 Nov 2021
       
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