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       # taz.de -- Ärztin über globale Impfgerechtigkeit: „Die EU bleibt die große Bremserin“
       
       > Wie kommen ärmere Länder an ausreichend Impfstoff gegen Covid-19? Nur
       > durch Aussetzung des Patentschutzes, sagt Elisabeth Massute von Ärzte
       > ohne Grenzen.
       
   IMG Bild: Zu wenig Stoff: Mitarbeiterin eines Corona-Impfzentrums in Johannesburg am 17. Mai 2021
       
       taz: Frau Massute, es werden inzwischen weltweit Unmengen an Impfstoff
       produziert. Warum brauchen wir trotzdem eine Aussetzung des Patentschutzes? 
       
       Elisabeth Massute: Den vorhandenen Impfstoff gerecht zu verteilen, das
       [1][haben wir ganz offensichtlich bisher nicht geschafft.] Die ärmeren
       Länder sind massiv abhängig von den wenigen Impfstoffherstellern weltweit,
       die aber zum Großteil nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Diese
       Abhängigkeit können wir nur mit mehr Produktionsstandorten auch in ärmeren
       Ländern verringern.
       
       Vor mehr als einem Jahr stellten Indien und Südafrika einen entsprechenden
       Eilantrag bei der Welthandelsorganisation. Wie ist es damit weitergegangen? 
       
       Im Rahmen der Verhandlungen kristallisierte sich schnell heraus, dass zwar
       100 Länder aus dem Globalen Süden den Antrag unterstützen, sich aber
       zunächst nahezu alle Industrienationen dagegen aussprachen. Es gab dann im
       Frühjahr einen Wendepunkt, als die USA überraschend einer Patentfreigabe
       für die Impfstoffe zustimmten. Daraufhin haben auch andere Länder wie
       Australien und Brasilien ihre Meinung geändert. Aber vor allem die EU
       bleibt die letzte große Bremserin bei dem Vorhaben.
       
       Das Gegenargument: Die Hersteller haben Unsummen in die Entwicklung
       gesteckt, das muss sich für sie auch lohnen. 
       
       Die Gesellschaft [2][hat auch Unsummen in die Entwicklung gesteckt]. Die
       Entwicklung des Moderna-Impfstoffs wurde zum Beispiel fast ausschließlich
       mit öffentlichen Geldern gegenfinanziert. Der Hersteller Biontech hat von
       der deutschen Bundesregierung 375 Millionen Euro Fördergelder erhalten. Die
       Grundlagen für die mRNA-Technologie wurden schon seit Jahrzehnten vor allem
       im Universitätsbetrieb erforscht. Da ist also bereits massiv öffentliches
       Geld drin. Das würde eine Aussetzung der Patente und einen
       Technologietransfer rechtfertigen.
       
       Das hätten die Regierungen doch bereits bei der Vergabe der Fördergelder
       vertraglich vereinbaren können. 
       
       Genau das ist nicht passiert und das ist einer unserer größten Kritikpunkte
       an die Regierungen. Man hätte effektive Bedingungen an die Vergabe knüpfen
       können wie zum Beispiel mehr Transparenz was den Anteil der privaten Mittel
       an der Entwicklung betrifft, aber auch für bezahlbaren und gerechten Zugang
       und Technologietransfer im Falle einer Pandemie. Es war sehr kurzsichtig
       und fahrlässig das nicht zu tun.
       
       Wenn man jetzt anfangen würde, Eigentumsrechte auszuhebeln, würde das nicht
       alle weiteren Innovationen bremsen? 
       
       Diese vermeintliche Innovationslogik können wir in vielen Fällen nicht
       bestätigen. Stattdessen gibt es im Bereich Medikamentenentwicklung immer
       wieder klassisches Marktversagen. Etwa bei den vernachlässigten tropischen
       Krankheiten, die für Pharmaunternehmen nicht lukrativ sind, weil
       überwiegend arme Menschen betroffen sind. Ohne öffentliche Gelder würde
       hier keine Innovation vorangetrieben werden.
       
       Die Gegner:innen sagen auch, dass die Übertragung des Know-hows und der
       Aufbau neuer Produktionsstätten viel zu lange dauern würde. 
       
       Wenn wir heute die Patente aussetzen, haben wir nicht morgen mehr
       Impfstoff, das ist klar. Aber die Forderung kam vor über einem Jahr, und
       die durchschnittliche Zeit für bislang stattgefundene Technologietransfers
       von mRNA-Impfstoffen beträgt laut einer Studie der US-amerikanischen
       Organisation Knowledge Ecology International sechs Monate. Wir könnten
       jetzt also schon ein halbes Jahr lang mehr Impfstoff produzieren.
       Tatsächlich geht gerade bei mRNA der Know-how-Transfer besonders schnell.
       
       Die Hersteller und auch die Befürworter des freien Marktes betonen immer
       wieder, dass es bereits freiwillige Kooperationen gibt und keinen Zwang
       braucht. 
       
       Es gibt nur einzelne Kooperationen mit Impfstoffherstellern etwa in Indien,
       Südafrika oder Ruanda. Besser als diese individuellen Vereinbarungen, die
       ja auch die Gefahr von Abhängigkeiten beinhalten, wäre aber eine
       Zusammenarbeit mit dem eigens dafür geschaffenen WHO mRNA-Technologie Hub.
       Dann bräuchte es nur einmal den Wissenstransfer und der Hub würde für die
       Multiplikation sorgen. So oder so sehen wir, dass Freiwilligkeit im Bereich
       mRNA-Technologie nicht in einem ausreichenden Maße zu globaler
       Produktionsausweitung führt.
       
       Die EU befürwortet als alternative Lösung Zwangslizenzen – ist das nicht
       das Gleiche wie eine Patentaussetzung? 
       
       Nein. Zwangslizenzen auszuhandeln dauert sehr lange und sie funktionieren
       vor allem auf nationaler Ebene. Den Ländern, die bisher keine eigenen
       Produktionskapazitäten haben, würden sie wenig nutzen.
       
       Eine Dosis mRNA-Impfstoff kostet im Einkauf rund 20 Euro, die Hersteller
       haben die Preise noch mal erhöht. Wird es bei eigener Produktion
       tatsächlich viel günstiger? 
       
       Einer Studie von Oxfam zufolge könnte man eine Impfdosis zum Preis von 1,20
       Euro produzieren.
       
       Wenn die Gegenargumente nicht so recht ziehen – worum geht es dann
       eigentlich bei der Blockade der EU? 
       
       Es sind ganz klar Wirtschaftsinteressen, die da geschützt werden sollen.
       Man hängt hier einem veralteten System von Forschung und Entwicklung nach,
       statt angesichts einer nie dagewesenen globalen Bedrohung neue Wege zu
       gehen. Es macht aus medizinischer, wirtschaftlicher und moralischer Sicht
       keinen Sinn, den Impfstoff in dieser Situation so ungleich zu verteilen.
       
       Aus medizinischer Sicht drohen weitere Virusmutationen. Dass es moralisch
       verwerflich ist, ärmeren Ländern lebensrettenden Impfstoff vorzuenthalten,
       liegt auch auf der Hand. Aber warum macht es aus wirtschaftlicher Sicht
       keinen Sinn? 
       
       Das sollte aus Sicht von Ärzte ohne Grenzen nicht das Hauptargument sein,
       aber es ist auf jeden Fall so, dass eine andauernde globale Pandemie über
       die nächsten fünf Jahre bis zu 5,3 Billionen US-Dollar Verluste für die
       Weltwirtschaft bedeuten könnte. Berechnungen der Weltbank, der
       Weltgesundheitsorganisation, der Welthandelsorganisation und des
       Internationalen Währungsfonds zeigen, dass eine globale Bekämpfung der
       Pandemie für alle günstiger wäre – sie veranschlagen dafür lediglich Kosten
       von 50 Milliarden US-Dollar.
       
       Wie geht es jetzt weiter? 
       
       Die Verhandlungen bei der Welthandelsorganisation werden fortgeführt, Ende
       November findet die große Ministerkonferenz der WTO statt. Ob dort ein
       Kompromiss verkündet wird, die Patente ausgesetzt werden oder weiter
       verhandelt werden muss, werden wir dann sehen. Klar ist: Diese Pandemie
       wird nicht einfach weggehen und die Weltgemeinschaft muss damit umgehen.
       Deutschland hat im nächsten Jahr die G7-Präsidentschaft inne und damit eine
       besondere Verantwortung. Eine neue Bundesregierung muss die bisherige
       Blockadehaltung aufgeben und Veränderungen vorantreiben.
       
       17 Nov 2021
       
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