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       # taz.de -- Forscher über Klimaneutralität 2030: „Die Zeit haben wir nicht mehr“
       
       > Wie soll die Hauptstadt in acht Jahren fossilfrei werden? Volker
       > Quaschning, der das Volksbegehren „Berlin 2030 Klimaneutral“ unterstützt,
       > erklärt es.
       
   IMG Bild: Über den Wolken ist nicht mehr allzu viel Platz für Berlins Kohlendioxid
       
       taz: Herr Quaschning, die Weltgemeinschaft, die gerade wieder bei der COP26
       in Glasgow tagt, hat sich 2015 in Paris mit Ach und Krach auf eine
       Begrenzung des mittleren globalen Temperaturanstiegs um 2 Grad verständigt
       …
       
       Volker Quaschning: Da muss ich gleich widersprechen: „Deutlich unter 2
       Grad“ lautet die Vereinbarung. Zwei Grad wären schon ein deutliches
       Verfehlen des Pariser Abkommens.
       
       Sie haben Recht. Hinzu kommt die Aussage, man wolle sich anstrengen, eine
       Begrenzung auf 1,5 Grad zu erreichen. Nun sagt die Klimaschutz-Bewegung:
       Diese 1,5 Grad sind nur drin, wenn wir in Deutschland Klimaneutralität
       deutlich vor 2045 erreichen – also der Zielmarke, die heute auf Bundes- und
       Landesebene gilt. In Berlin läuft deshalb ein Volksbegehren, das
       stattdessen das Jahr 2030 in Energiewendegesetz heben will. Bevor wir
       darüber sprechen, noch mal ganz allgemein gefragt: Muss man nicht
       ehrlicherweise sagen, dass es global nichts mehr wird mit den 1,5 Grad?
       
       Würde ich so nicht sagen. Der Weltklimarat gibt die Menge an CO2 vor, die
       wir weltweit noch ausstoßen dürfen, um 1,5 oder 1,7 Grad mittleren
       Temperaturanstiegs zu erreichen. Das ist wissenschaftlich geklärt. Die
       Frage ist: Wie verteilen wir dieses Restbudget?
       
       Und? 
       
       Der Ansatz des Sachverständigenrats für Umweltfragen, der ein Gutachten
       dazu erstellt hat, lautet, dass wir dieses Budget pro Kopf auf der Welt
       verteilen. Dann kommt man sehr schnell zu dem Schluss, dass das deutsche
       Budget für 1,5 Grad, selbst wenn wir uns anstrengen, wahrscheinlich um 2030
       erschöpft ist. Wenn wir 1,7 Grad erreichen wollten, was immer noch deutlich
       unter 2 Grad liegt, also gerade noch ein Einhalten des Pariser Abkommens
       wäre, kommen wir auf 2035. Tatsächlich benennen alle relevanten Parteien in
       Deutschland den 1,5-Grad-Pfad als Ziel. Was das Jahr 2045 in diesem
       Zusammenhang bedeutet, weiß ich nicht. Das ist nicht wissenschaftlich
       begründet, sondern relativ willkürlich gewählt.
       
       Trotzdem: Global deutet wenig auf ein Einhalten des 1,5-Ziels hin.
       
       Schauen wir doch mal. Bei der COP-Konferenz gab es jetzt zum Beispiel die
       Zusage Indiens, bis 2070 klimaneutral zu werden. Da sagt man aus deutscher
       Sicht schnell: Wir sind ja viel besser als Indien, und so wird das nie was.
       Das halte ich für eine sehr schale Ausrede. Unsere Rechnung ist eine
       andere: Der indische Pro-Kopf-Ausstoß beträgt weniger als ein Viertel des
       deutschen. Auf dieser Basis hat Indien im Grunde vier mal so viel Zeit,
       Klimaneutralität zu erreichen, weil sie von einem viel niedrigeren Level
       starten – theoretisch sogar bis 2090 oder 2100. Mit seiner jüngsten
       Ankündigung würde Indien das Pariser Abkommen einhalten, Deutschland nicht.
       Natürlich gibt es andere Länder mit einem hohen Pro-Kopf-Ausstoß, wie
       Russland oder Saudi-Arabien, die werden 2060 komplett außerhalb der Spur
       liegen. Aber wenn Länder wie Indien ihren Beitrag leisten, wären wir gut
       beraten, dasselbe zu tun. Erst dann dürfen wir über die anderen urteilen.
       
       Kommen wir zu Berlin, das die AktivistInnen des [1][Volksbegehrens bis 2030
       klimaneutral] machen wollen – Sie gehören zu den offiziellen
       Vertrauenspersonen. Regine Günther, die amtierende grüne
       Klimaschutzsenatorin, hat zuletzt betont, dass sie es auch gut fände, wenn
       es schneller ginge. Nur habe ihr noch niemand stichhaltig erläutern können,
       mit welchen Maßnahmen man Klimaneutralität vor den 2040ern erreichen kann.
       
       Die Frage ist einfach, welche Maßnahmen man für realistisch erachtet. Wenn
       eine Regierung nur ein paar Radwege auf die Straße pinselt und das für
       Klimaschutzpolitik hält, werden wir es auch bis in die 2040er Jahre nicht
       schaffen. Ja, wir brauchen sehr ambitionierte und radikale Maßnahmen, das
       muss man ganz klar sagen. Wir müssen weg vom Verbrennungsmotor, weg von der
       Öl- oder Gasheizung, wir müssen schauen, dass wir die erneuerbaren Energien
       mit einem viel höheren Tempo ausbauen. Und in den letzten Jahren haben wir
       keine Maßnahmen der Berliner Politik gesehen, die nur ansatzweise
       ausgereicht hätten, um in diese Richtung zu kommen. Gerade für eine
       rot-rot-grüne Regierung ist das ein Armutszeugnis. Ob man es am Ende
       schafft, ist eine andere Frage. Aber ich kann hier keinen schlüssigen
       Versuch erkennen, überhaupt das Pariser Klimaschutzabkommen einzuhalten.
       
       Frau Günther fragte ironisch: „[2][Warum nicht gleich 2024?] Das wäre doch
       noch besser.“ Das frage ich Sie jetzt. 
       
       Naja, das ist reine Polemik, und es regt mich jetzt wirklich ein bisschen
       auf. 2030 ist wissenschaftlich begründet, weil wir dieses Jahr für das
       1,5-Grad-Ziel brauchen. Die Grünen haben in ihr Wahlprogramm für den
       Bundestag geschrieben, dass sie zu diesem Ziel stehen. Das heißt im
       Umkehrschluss aber auch, dass etwas dafür getan werden muss! Wenn Grüne in
       diesem Zusammenhang von den 2040er Jahren reden, ist das Unsinn, Fake News.
       Da müssen sie dann so ehrlich sein und sagen: Okay, Deutschland hat den
       1,5-Grad-Pfad eh schon verbaselt, und wir werden mit unserer Politik auch
       die 1,7 Grad nicht erreichen. Wir fokussieren uns darauf, auf einen Pfad
       für etwa 2 Grad zu kommen, auch wenn wir damit das Pariser
       Klimaschutzabkommen nicht mehr einhalten. Wenn wir so eine ehrliche Aussage
       von den Grünen kriegen, können wir uns auf dieser Basis auch wieder
       unterhalten. Sonst sehe ich da eher Falschaussagen und leere
       Versprechungen.
       
       Das Volksbegehren fordert die Verschärfung des Berliner
       Energiewendegesetzes. Dabei geht es im Kern um das Vorziehen der
       allgemeinen Jahreszahlen. Wäre es nicht notwendig, analog zum
       Klimaschutzgesetz des Bundes sogenannte jahresscharfe Sektorziele zu
       definieren – also für Energiewirtschaft, Gebäude, Verkehr oder Industrie?
       
       Ja, das ist sinnvoll, weil es Druck erzeugt. Im Bund werden aber die Ziele
       auch nicht erreicht, abgesehen vom Jahr 2020, Corona sei Dank. Und wir
       können uns ja nicht auf Pandemien verlassen, um unsere Klimaziele zu
       schaffen. Aus den Koalitionsverhandlungen sickert nun durch, dass man diese
       eigentlich schon viel zu schwachen Sektorziele noch verwässern möchte –
       schon weil man bereits jetzt weiß, dass man sie 2021 und 2022 nicht
       einhalten wird. Schauen Sie sich mal das Zwischenziel im Bund von 2030 für
       den Verkehrsbereich an: Da heißt es, dass wir die Emissionen bis dahin
       halbieren müssen. In Berlin schafft man es noch nicht mal, bis 2030 ein
       Zufahrtverbot für Autos mit Verbrennungsmotor durchzusetzen, stattdessen
       bauen wir eine Autobahn fertig. Wir als angebliche Vorreiter in der
       Klimapolitik müssen da nach Kopenhagen oder Paris schielen, wo sich richtig
       was tut.
       
       Die Tücken bei der Umsetzung des 2030-Ziels wären zahlreich. Beispiel
       Wärmeversorgung, die heute rund die Hälfte von Berlins CO2-Emissionen
       verursacht. Das Energiewendegesetz sieht bislang vor, dass Fernwärme bis
       2030 zu 40 Prozent fossilfrei erzeugt werden soll. Weil gleichzeitig die
       Kohleverbrennung 2030 enden soll, würde beim Rest wohl erst mal auf Erdgas
       umgestellt. Sie sagen: Das muss gleich ganz fossilfrei gehen.
       
       Natürlich. Kohle durch Gas zu ersetzen, ist wie Pest durch Cholera zu
       ersetzen. Es gibt zwar einen CO2-Rückgang beim Gas, aber der ist so klein,
       dass uns das Budget in Kürze schon wieder aus dem Ruder liefe. Wir würden
       einen Riesenaufwand betreiben, der uns vielleicht drei Jahre lang hilft,
       die Klimaschutzziele zu erreichen. Deshalb müssen wir diesen Schritt
       überspringen und gleich voll auf Erneuerbare Energien setzen.
       
       In jedem Fall reden wir hier von gigantischen Investitionen, zumal die
       Fernwärmequote von heute 32 auf 44 Prozent gesteigert werden soll. Dafür
       müssen ganze Straßenzüge aufgerissen werden.
       
       Die Frage ist immer wieder: Welche Bedeutung messen wir dem Klimaschutz
       bei? Schauen Sie sich an, welche finanziellen Aufwendungen in der
       Coronakrise quasi über Nacht freigemacht wurden. Im Vergleich zur
       Klimakrise war Corona Kindergarten.
       
       ## Die Bekämpfung der Klimakrise ist deutlich teurer.
       
       Dann sehen Sie sich die Folgen der ungebremsten Klimakrise an, also was
       dann in 20, 30 Jahren auf eine Stadt wie Berlin zurollen würde. Die Kosten,
       die es verursacht, diese Folgen noch irgendwie in den Griff zu bekommen,
       fallen viel höher aus! Was machen wir denn, wenn die Trinkwasserversorgung
       zusammenbricht? Dagegen ist das Aufgraben von Straßen doch ein
       überschaubares Problem. Diese Dramatik muss man sich immer wieder vor Augen
       halten. Dass wir das mit den aktuellen Maßnahmen und der aktuellen
       Geschwindigkeit der Berliner Verwaltung nicht hinbekommen, ist klar, da
       brauchen wir einen ganz großen Ruck. Aber würde ein Meteorit auf die Erde
       zurasen und wir hätten noch ein halbes Jahr Zeit, dann würden wir doch auch
       alle Gelder der Welt akquirieren, um diese Bedrohung irgendwie abzuwehren.
       
       Viele Technologien, die [3][von KlimaaktivistInnen vorgeschlagen] werden
       und zum Teil auch in der sogenannten Wärmestrategie des Senats auftauchen,
       sind noch gar nicht ausgereift. Etwa die Rückgewinnung von Wärme aus
       häuslichem Abwasser in großem Umfang.
       
       Ich gehe davon aus, dass wir nicht mehr das technisch und das ökonomisch
       Optimale umsetzen können – weil uns einfach die Zeit ausgeht. Das perfekte
       System hätten wir vor 30, 40 Jahren einleiten müssen. Wir müssen alles
       unter dem Gesichtspunkt der Machbarkeit betrachten, auch wenn es teurer
       wird und effizienter sein könnte. Es muss halt funktionieren. Da werden wir
       eine Zeit lang Wärme in die Netze geben, die mit Überschussstrom aus
       Brandenburger Sonne und Wind erzeugt wird, das ließe sich relativ schnell
       aufbauen. Natürlich hat Abwärmenutzung viel höhere Effizienzen. Aber unser
       Nichthandeln in der Vergangenheit beschert uns eben weniger effiziente
       Lösungen.
       
       Der größere Teil der Berliner Haushalte, besonders in den Ein- und
       Zweifamilienhäusern am Stadtrand, wird auch künftig nicht am Fernwärmenetz
       hängen. Da haben Sie das Problem, dass die EigentümerInnen nicht einfach
       gezwungen werden können, ihre Öl- oder Gasheizungen abzuschaffen. Man hat
       das einfach nicht der Hand. In der aktuellen Wärmestrategie der
       Senatsverwaltung ist deshalb von einer „Beratungsoffensive“ die Rede.
       
       Also, „Beratungsoffensive“ … das ist so wie zu sagen: „Wir stecken jetzt
       mal Geld in Forschung.“ Das ist das, was kommt, wenn ich keine politische
       Idee mehr habe. Natürlich brauchen wir auf Bundesebene ein
       schnellstmögliches Verbot des Einbaus fossil betriebener Heizungen, anders
       wird es nicht gehen. Über Beratung und auch über die Preise werden wir das
       nicht hinbekommen. Die Preise werden ja nur langsam ansteigen, weshalb noch
       lange ganz viele Haushalte die falschen Systeme einbauen werden.
       
       Und dann? 
       
       Dann können Sie entweder die neue Gasheizung nach fünf Jahren wieder
       rausreißen, was natürlich Unsinn ist – oder Sie fangen an, sie mit grünem
       Wasserstoff zu befeuern. Da liegen wir aber bei den Kosten locker um den
       Faktor 2 über den heutigen Preisen für Öl und Gas, und ich will mal sehen,
       wie die Politik das verkaufen will. Wir müssen also alle Altlasten
       vermeiden und verhindern, dass weiterhin Öl- und Gasheizungen eingebaut
       werden. Überall, wo saniert wird, müssen Wärmepumpen installiert werden.
       
       Aber die Gasheizungen, die jetzt gerade eingebaut werden, laufen ja in acht
       Jahren noch. 
       
       Die laufen wahrscheinlich auch 2045 noch, die machen auf alle Fälle ein
       Problem, auch für das deutsche Klimaschutzgesetz. Deshalb ist es so wichtig
       aufzuhören, weiter Altlasten zu schaffen. Im zweiten Schritt müssen wir uns
       darüber Gedanken machen, wie wir diese Heizungen rausbekommen. Und da ist
       der limitierende Faktor gar nicht die Technik oder das Geld, sondern
       irgendwann das qualifizierte Personal. Wir haben gar nicht genug Menschen
       im Handwerk, um alle Heizungen auszutauschen. Deshalb brauchen wir jetzt
       eigentlich keine Aufklärungsoffensive, sondern eine Ausbildungsoffensive.
       Wenn diese Voraussetzungen einmal geschaffen sind, müssen wir den Austausch
       entweder vorschreiben oder zur Not mit viel, viel Geld bezuschussen.
       
       Das Problem beim Strom ist ähnlich gelagert: Das Berliner Solargesetz
       schreibt demnächst vor, dass auf allen Neubauten und bei allen
       Dachsanierungen Photovoltaikanlagen errichtet werden müssen. Das ließe sich
       eventuell noch verschärfen, so dass auch im Gebäudebestand deutlich mehr
       passiert. Dann wird es aber auch ganz schnell eng: Erstens fehlt hier
       ebenfalls das Personal, zweitens macht es wenig Sinn, Anlagen auf marode
       Dächer zu bauen – viele müsste man erst noch renovieren.
       
       Wir müssen da kreativ werden. Natürlich wäre es am schönsten, wir hätten
       Anlagen auf jedem Dach und an jeder Fassade und Berlin könnte sich zu 50
       Prozent selbst versorgen. Aber auch da werden wir nicht mehr die optimalen
       Lösungen bekommen. Wir haben einmal berechnet, dass wir schon beim Ziel der
       Klimaneutralität bis 2035 bundesweit rund 200.000 Arbeitsplätze in der
       Photovoltaikbranche schaffen müssen. Für die Installation auf Freiflächen
       brauchen Sie aber nur ein Drittel des Personals, und es geht wesentlich
       schneller. Das heißt, wir werden Berlin und Brandenburg als Einheit denken
       und Anlagen vor den Toren Berlins aufstellen müssen.
       
       Damit macht man sich nicht unbedingt Freunde. 
       
       Ich bin eigentlich auch kein Fan davon, weil wir damit ein Akzeptanzproblem
       wie bei der Windenergie bekommen. Aber Berlin wird eben einen
       entsprechenden Ausgleich zahlen müssen, und natürlich muss man trotzdem
       schauen, dass man so viel wie möglich auf die Dächer bekommt. Ich bin sehr
       dafür, das über Verpflichtungen zu machen oder quasi eine
       Fehlbelegungsabgabe für jedes geeignete Dach ohne Solaranlage. Abgesehen
       davon schießt in Berlin gefühlt jede Woche ein neuer Discounter aus dem
       Boden. Da muss man dafür sorgen, dass deren Parkplätze und Dächer mit
       Solaranlagen belegt werden. Das kann man auch gleich mit Ladesäulen für die
       Kundinnen und Kunden verbinden.
       
       Was uns zum Thema Verkehr bringt: Auch viele KlimaaktivistInnen fordern ja,
       Berlin gleich weitgehend autofrei zu machen. Wäre das nicht tatsächlich im
       Sinne des 1,5-Grad-Pfads? Und würde man es nicht mit dem Aufbau einer
       Ladeinfrastruktur konterkarieren?
       
       Wir haben in Deutschland heute 48 Millionen Autos auf 83 Millionen
       Menschen, eine Dichte, die weltweit schon wegen der Rohstoffproblematik
       niemals möglich wäre. Sprich: Wir können in Deutschland nur so lange so
       viel Auto fahren, wie viele andere Länder zu arm sind, sich das zu leisten.
       Das ist kein zukunftsfähiges Modell, also müssen wir die Anzahl der Autos
       deutlich reduzieren, um auf ein für die Welt verträgliches Maß zu kommen.
       
       Und wie viel ist das konkret? 
       
       Null Autos werden es nicht sein, aber für die kommenden 20 Jahre wäre die
       Hälfte eine ganz gute Zielmarke. Anderswo gibt es längst gute Beispiele,
       wie das funktionieren kann: In Kopenhagen wird der Parkraum schon lange um
       ein Prozent pro Jahr reduziert. Damit weiß ich: Nach 30 Jahren habe ich 30
       Prozent weniger Autos, weil es für den Rest einfach keine Stellfläche mehr
       gibt. Das ist ein funktionierendes Konzept, das man nach Berlin übertragen
       könnte – vielleicht müsste es hier eine Reduktion von zwei statt einem
       Prozent sein. Oder wir schauen nach London, wo es über 12 Euro kostet, mit
       dem Pkw in die Innenstadt zu fahren.
       
       Also eine Citymaut, die ja auch bei Linken sehr unbeliebt ist – weil
       mutmaßlich unsozial.
       
       Ja mei … Wer sich ein Auto leisten kann, kann sich auch die Citymaut
       leisten, ein Auto ist ohnehin nicht wirtschaftlich. Ich habe auch eins,
       aber ich käme nie auf die Idee, damit in die Berliner Innenstadt zu fahren.
       Wer meint, er muss das, der muss dann halt dafür bezahlen. Es gibt
       Berechnungen, dass der Unterhalt eines Parkplatzes auf öffentlichem
       Straßenland zwischen 500 und 1.000 Euro im Jahr kostet. Das sind alles
       Subventionen, genau wie die extrem niedrigen Anwohner-Parkgebühren. So
       gesehen ist die Citymaut eigentlich keine Gebühr, sondern ein Streichen von
       Subventionen, das muss man auch so kommunizieren. Und die Leute werden es
       verstehen, wenn sie wahrnehmen, dass sich die Lebensqualität in der Stadt
       in dem Maße erhöht, in dem die Autos weniger werden. Aber wie gesagt: Auf
       null werden wir nicht herunterkommen.
       
       Naiv gefragt: Wieso nicht? 
       
       Ich halte das für nicht durchsetzbar. Wir wissen ja, dass die Deutschen mit
       ihren Autos verheiratet sind. Für diesen Rest brauchen wir dann die
       Ladeinfrastruktur, denn die verbleibenden Autos müssen emissionsfrei sein.
       Das bedeutet auch, dass ab 2030 gar keine Kfz mit Verbrennungsmotoren mehr
       in die Stadt einfahren dürfen.
       
       In die ganze Stadt? 
       
       In die ganze Stadt. Natürlich muss man Alternativen schaffen. Der Ausbau
       des schienengebundenen ÖPNV ist bekanntlich leider sehr langwierig.
       Wahrscheinlich wird man viel mit Bussen lösen müssen, und auch das Fahrrad
       ist für viele eine Option.
       
       Zum BER: Der taucht derzeit in Berlins Klimabilanz gar nicht auf – und das
       Volksbegehren fordert, das zu ändern. Da ist mir zweierlei nicht klar:
       Erstens, wie legt man die Emissionen aus Flügen anteilig auf Berlin um,
       zweitens, wie soll das Fliegen bis 2030 klimaneutral werden? Dass
       massenweise synthetisches Kerosin mit grünem Strom wirtschaftlich
       hergestellt wird, ist doch reine Zukunftsmusik. Da hieße es dann in acht
       Jahren einfach: Die Flieger bleiben am Boden.
       
       Es ist immer die Frage der Ambition, mit der man an die Sache herangeht.
       Was heißt denn wirtschaftlich? Natürlich wird niemand mehr für 19 Euro zum
       Ballermann fliegen können. Aber man muss doch auf der anderen Seite den
       Schaden ansehen, den das Fliegen verursacht. Mit einem Flug nach Australien
       und zurück verursache ich über 10 Tonnen CO2, nach Amerika sind es 4 bis 5
       Tonnen, das ist ein Klimaschaden von 1.000 Euro. Auch der Flugverkehr ist
       also hoch subventioniert. Und dass der BER bilanziell nicht in Berlin zu
       Buche schlägt, nur weil er außerhalb des Stadtgebietes liegt, macht
       wirklich keinen Sinn: Der überwiegende Teil der Menschen, die dort landen,
       wollen doch nach Berlin und nicht nach Cottbus.
       
       Es kann also noch ein bisschen geflogen werden, zu saftigen Preisen? 
       
       Naja, es müssen nun mal alle Flüge bis 2030 klimaneutral sein, wenn wir den
       1,5-Pfad halten wollen. Da muss man eben sofort damit anfangen, die Weichen
       für die Herstellung synthetischer Treibstoffe zu stellen. Und wenn man sie
       nicht in Deutschland produzieren kann, muss man sie importieren.
       Gleichzeitig muss man die Alternativen stärken, also den Bahnverkehr
       deutlich ausbauen. Das liegt wieder nicht in der Hand des Landes Berlin,
       vollkommen klar, aber man muss das Problem doch erst einmal thematisieren
       und kann es nicht einfach outsourcen.
       
       Wir haben jetzt viel darüber geredet, was die Politik tun muss, damit wir
       unser CO2-Budget nicht sprengen. Müsste die Klimabewegung nicht
       gleichzeitig viel deutlichere Appelle an die Gesellschaft richten? Wenn wir
       alle unsere Konsumgewohnheiten veränderten, ließen sich doch umgehend
       beträchtliche Mengen CO2 vermeiden. 
       
       Also ich bin der Letzte, der es bei schwachen Appellen belässt. Aber ich
       hole mir auch regelmäßig eine blutige Nase in den sozialen Netzwerken, wenn
       ich sage: Leute, ihr müsst auch mal selber aus dem Quark kommen. Ich selbst
       tue alles, was ich tun kann, und das wird auch bei vielen in der
       Klimabewegung so sein.
       
       Was tun Sie denn? 
       
       Ich habe eine große Solaranlage, beziehe klimaneutralen Strom, mein Haus
       wird klimaneutral beheizt, ich habe ein Elektroauto und eine Monatskarte
       für den ÖPNV, ich lebe vegan und ich fliege nicht mehr. Ich weiß aber auch
       aus 30 Jahren Erfahrungen und Diskussionen, dass es so einfach nicht ist.
       Ich appelliere viel, und als ich meine Solaranlage gebaut habe, sind auch
       Nachbarn dem Beispiel gefolgt. Aber viele andere eben nicht. Ich kann mich
       also hinstellen wie die Zeugen Jehovas und versuchen, die Leute zu
       bekehren, aber wenn sie es nicht wollen, muss es der Gesetzgeber tun.
       Wichtig ist, dass die Bevölkerung die Maßnahmen mitträgt und wir keine
       Gelbwestenproteste bekommen.
       
       Sagen Sie doch trotzdem noch mal, was wir alle tun könnten, um das
       CO2-Budget zu schonen. 
       
       Ich fange da immer mit zwei Sachen an, die eigentlich total einfach sind:
       sich vegan ernähren und nicht mehr fliegen. Das sind Dinge, die können alle
       machen und die kosten nicht mal etwas.
       
       Oder die Heizung um ein Grad herunterdrehen. 
       
       Ja, das ginge auch, das ergibt dann eine Energieersparnis von ungefähr 6
       Prozent. Der Flugverkehr macht 10 Prozent der deutschen CO2-Emissionen aus,
       und mehr als 50 Prozent davon ist privat bedingt! Aber da merkt man
       schnell, dass das nicht unbedingt mehrheitsfähig ist. Da heißt es dann: Ich
       mache doch schon so viel, ich trenne doch meinen Müll, aber dieser Flug,
       der muss halt sein. Ich will das gar nicht als Vorwurf formulieren. Das
       Leben ist stressig, die Menschen haben viele Alltagssorgen, und der
       Klimawandel ist für viele gefühlt immer noch sehr weit weg. Ja, die
       Bereitschaft zur Veränderung nimmt zu, aber ins Handeln zu kommen, so, dass
       es wirklich Klick im Gehirn macht, das dauert. Und die Zeit haben wir nicht
       mehr. Deshalb muss die Politik handeln.
       
       10 Nov 2021
       
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       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Volks-Ini „Berlin 2030 klimaneutral“: Volksbegehren droht zu scheitern
       
       Das Volksbegehren „Berlin 2030 klimaneutral“ sammelte im ersten Monat nur
       8.650 Unterschriften. Die Aktivist:innen bleiben dennoch hoffnungsvoll.
       
   DIR Trotz Flughafen-Personalmangel: Kein Chaos am BER
       
       Die Zahl der Beschäftigten an Flughäfen ist auf einem Rekordtief.
       Politiker*innen warnen vor großem Durcheinander, doch am BER läuft es.
       
   DIR Berliner Klimabürger:innenrat: Das Volk macht Druck beim Klima
       
       Der Berliner Klimabürger:innenrat hat mehrere Dutzend Empfehlungen an
       die Politik vorgelegt – auch die deutliche Reduktion des Autoverkehrs.
       
   DIR Gespräch mit der Zivilgesellschaft: „Wir sind Antreiber, ganz klar“
       
       Verkehr, Klima, Umwelt – hier hat Rot-Grün-Rot einiges vor. Aber reicht
       das? Nein, meinen VertreterInnen von Gruppen, die dem Senat Druck machen.
       
   DIR Rückbau der Berliner Stadtautobahnen: Das Ende der Kiezautobahn
       
       Rot-Grün-Rot möchte zwei Stadtautobahnen im Berliner Süden zurückbauen und
       kratzt damit an einem Dogma der westdeutschen Verkehrspolitik.
       
   DIR Koalitionsverhandlungen in Berlin: Klimaschutz in die Verfassung
       
       Die Neuauflage von Rot-Grün-Rot betont den Klimaschutz, will aber keine
       neuen Maßstäbe setzen: Ein Zeitplan, wann Berlin klimaneutral sein soll,
       fehlt.
       
   DIR Ernährung und Klimaschutz: Zukunftsmenü für Berlin
       
       Das Thema Ernährung wurde beim Klimaschutz in Berlin bislang sträflich
       vernachlässigt. Der neue Senat muss das endlich ändern.
       
   DIR Initiative bei der UN-Klimakonferenz: Aus für Benziner und Diesel
       
       24 Staaten, 6 große Auto-Hersteller sowie viele Städte und Investoren
       einigen sich auf ein Ende von Verbrennerautos. Und Deutschland? Patzt.
       
   DIR Volksbegehren Berlin 2030 klimaneutral: Erste Hürde genommen
       
       Das Bündnis Berlin 2030 klimaneutral hat 39.116 Unterschriften für sein
       Volksbegehren gesammelt. Dafür brauchte das Bündnis nur 3 Monate.
       
   DIR Umweltsenatorin über Klimaschutz: „Maßnahmen müssen umsetzbar sein“
       
       Berlins Senatorin Regine Günther (Grüne) über ihre Rolle bei den
       Klimaprotesten, Schnellladesäulen für Elektroautos – und die Frage der
       Radikalität.
       
   DIR Rot-Rot-Grüne Umweltpolitik in Berlin: Das Klima könnte besser sein
       
       In der Klimapolitik machen ihre Fraktionen und Aktivist*innen der
       Koalition Druck – zum Glück: Die rot-rot-grünen Klimaziele wurden
       nachgeschärft.