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       # taz.de -- Jazzfest Berlin 2021: Schmissig-elegantes Zeug
       
       > Das Jazzfest Berlin war auch in diesem Jahr international-vielfältig. Im
       > Fokus standen Künstler:innen aus Johannesburg, São Paulo und Kairo.
       
   IMG Bild: Zoom auf die Pedalsteel-Gitarre der Jazzerin Susan Alcorn beim Jazzfest Berlin
       
       Mariá Portugal ist zur Hälfte durch mit ihrem Set beim Berliner Jazzfest am
       Samstag, es ist die Live-Premiere ihres Albums „Erosão Viva“. Die
       brasilianische Schlagzeugerin hat während einer wegen Covid verlängerten
       Residence in Deutschland hier eine Band zusammengestellt, und jetzt, wo sie
       in dem langen, gesungenen Teil ins Deutsche schaltet und so etwas singt wie
       „Es lohnt sich nicht aufzustehen“, bin ich restlos überzeugt.
       
       In der Tat, diese Musik bleibt liegen, verteidigt so schwebend, somnambul
       und flüssig ihre Kratzigkeiten, ihre Intensitäten, [1][ihren Eigensinn.]
       Auch wenn dieses lange, weder wirklich an- oder abschwellende, sondern in
       einer auf der Stelle tanzenden, Affektpirouette innehaltende Stück nicht
       direkt nach irgendetwas klingt: [2][Four Tet], Derek Bailey, Anette Peacock
       und Regenwald concrète seien erwähnt, um wenigstens vage auf das zeigen,
       was hier eben doch eher unmerklich eingeflossen ist.
       
       Mariá Portugal ist beim Jazzfest 2021 aber auch Funktionsträgerin: Sie
       steht für [3][die Szene von São Paulo]. Die brasilianische Megalopole ist
       neben Kairo und Johannesburg Partnerin für ein Festival, das sich nicht bei
       der documenta und anderen Kulturglobalisierern hinten anstellen will:
       Gleich drei City-Szenen des Südens sind ständig präsent; keine schillernden
       Idyllen lokaler Besonderheiten, sondern Städte, die ihrerseits viel
       Hinterland und Vielfalt aufgesogen haben.
       
       ## Geschmackvoll abgestimmte Duos
       
       Hier haben sie allerdings sehr unterschiedliche Auftritte. Unter den
       Anwesenden steht Mariá Portugal für São Paulo und Maurice Louca für Kairo,
       aus Johannesburg ist Nuduzo Makhatini angereist. Auch Loucas europäische
       Band gehört zu den Highlights des Festivals: Elephantine spielt ein
       unglaublich klangfarbensensibles, an dekadente Theatermusik und die frühen
       Mothers of Invention („King Kong Variations“) erinnerndes, dennoch sehr
       ernsthaftes, schmissig-elegantes Zeug, bei dem vier Bläser fast zackig auf
       geschmackvoll abgestimmte Duos folgen – immer unter der Fuchtel einer
       wirbeligen Vibraphonistin.
       
       Einmal – habe ich das richtig gesehen? – greift der Chef dann sogar zur
       Dobro. Was zu den gleich zwei großartigen Auftritten der
       US-Pedal-Steel-Gitarristin Susan Alcorn passte – einmal mit eigenem
       Quartett, dann mit Walking-Bass-Figuren auf der PSG bei Nate Woolley:
       Kernbestände von Country & Western als Jazzerweiterungen.
       
       Und was fein ausgesägte Bläsersätze betrifft, konnten allenfalls die drei
       roughen skandinavischen Hörner von Koma Saxo mithalten, die allerdings ganz
       undekadent gegen Peter Eidhs Bass-Verteidigung und den vielarmigen Torhüter
       Christian Lilinger am Schlagzeug kämpften.
       
       ## Fernbeiträge per Videoschalte
       
       Die brasilianischen, eher als Musikvideos auftretenden Fernbeiträge wussten
       weder visuell noch installativ mit dem hier angebotenen Vierkanalformat
       viel anzufangen – dass die abstrakten Farbrhythmen zur Musik von São Paulo
       Underground (mit u. a. Rob Mazurek und Mauricio Takara) eher so aussahen,
       wie Berliner Techno-Visuals der Saison 97/98, stellte die Frage, ob man,
       wenn solche Bildbeiträge zukünftig zu Genres aufsteigen sollen, eine
       Zusammenarbeit mit zeitgenössischen bildenden Künstler:innen nicht mehr
       versprechend wäre als die alte Nummer der Farbrhythmisierung.
       
       Kairo war etwa durch zwei sehr anregende künstlerische Recherchefilme
       präsent: Nancy Mounir rekonstruiert filmisch und musikalisch die Arbeit der
       berühmten ägyptischen Sängerinnen der ersten Jahrzehnte des 20.
       Jahrhunderts, durch Archivmaterial wie eine eigene Performance, wo
       genialerweise das Theremin einige der harmonischen Besonderheiten dieses
       Gesangs aufgreift.
       
       Philipp Rizk inszeniert einen Taumel aus historischem und rekonstruktivem
       Material rund um die Cairo Free Jazz Band der frühen 1970er: ein
       Unternehmen des ägyptischen Drummers und Generals Salah Ragab und des vor
       Kurzem verstorbenen Hartmut Geerken – Experimentalschriftsteller, Musiker
       mit u. a. John Tchicai und Famoudou Don Moye vom [4][Art Ensemble of
       Chicago], unermüdlicher Herausgeber der Schriften des Salomo Friedlaender,
       Goethe-Institutsleiter in Kabul und Kairo, Organisator von Sun-Ra-Konzerten
       in Ägypten und sehr viel mehr.
       
       Bei diesem Projekt ist dann auch Maurice Louca wieder dabei und auch die in
       diesen Tagen wieder so viel diskutierte ägyptische elektronische Musik
       spielt eine große Rolle. Johannesburg sandte sogar echte Live-Übertragungen
       nach Berlin von einem parallelen Festival, dessen lokaler Kontext
       vielleicht etwas zu selten von den südafrikanischen Kameras eingefangen
       wurde.
       
       ## Technisch stolprige Begegnungen
       
       Die lustigen und technisch stolprigen Begegnungen waren erfrischend, zumal
       die Johannesburger aus ihrem anderen Wetteruniversum eine gute Laune nach
       Berlin brachten, die das winterliche Silent Green im Berliner Wedding als
       ein schönes, aber doch nicht gerade heiteres Venue gut gebrauchen konnte.
       Man hätte auch hier aus dem Vierkanalformat noch mehr herausholen können:
       Offensichtlich sah man in Johannesburg mehr von Berlin als umgekehrt. Wie
       das dortige Publikum und die erkennbar beeindruckte Moderatorin auf das
       Konzert von Aki Takase reagiert haben, hätte man gerne genauer erfahren.
       
       Die japanische Pianistin hatte gerade den Albert-Mangelsdorff-Preis
       gewonnen und wurde dann ganz rührend unter anderem von Manfred Schoof in
       den Arm genommen, der sich als lieber Freund und bester und ältester Freund
       ihres Ehemannes vorstellte, Alexander von Schlippenbach, dem ersten
       Gewinner dieses Preises. Diese Schlippenbachs!
       
       ## Verhakter Preisträgerinnen-Punkjazz
       
       Takases Band spielte dann nämlich den tightesten, lustigsten, ultrapräzise
       verhaktesten Preisträgerinnenpunkjazz, den man sich denken konnte. Wozu
       auch ihr sagenhafter Stiefsohn, der Turntableist Vinzenz von Schlippenbach
       aka DJ Illvibe beitrug – ich kannte seine Arbeit bisher nur von Recordings
       –, der hundertstelgenaue Microsoundbytes in den virtuosen
       Boogiefunkfreejazzmix warf.
       
       An Showstarcharisma konnte es allenfalls noch der sympathisch verhampelte
       Sibusile Xaba live aus Jo’burg mit Takase aufnehmen, wenn auch dicht
       gefolgt von der oldschoolcharmanten Posaunistin Siya Makuzeni; beide
       standen, wenn auch für einen Teil des Publikums musikalisch zu gefällig,
       auch als Sänger:innen im Mittelpunkt. Das war eh ein Ding: Fast alle
       sangen auch.
       
       So hat US-Trompeter-Veteran Dave Douglas mit einem großartigen
       Kammerensemble (Marta Warelis, Tomeka Reid, Frederik Leroux, Antoine
       Pierre) seinen neuesten Songzyklus mit fast an Robert Wyatt erinnernder
       Helligkeit vorgetragen, gemeinsam mit der ebenfalls singenden Tubistin
       Berlinde Deman. Es ging bei „Secular Psalms“ um den Genter Altar von Jan
       van Eyck, mit je einem Bild pro Song auf die vier Kanäle projiziert.
       Visuell wäre auch da mehr drin gewesen.
       
       9 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Diedrich Diederichsen
       
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