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       # taz.de -- Menschenrechtsorganisation in Russland: Wo die Erinnerung „liquidiert“ wird
       
       > Vor dem Obersten Gericht beginnt der Prozess um die Organisation
       > Memorial. Der Generalstaatsanwalt wirft ihr Verstöße gegen die „Moral“
       > vor.
       
   IMG Bild: Menschenrechtsaktivisten und Journalisten warten vor dem Gericht in Moskau auf das Memorial-Urteil
       
       Moskau taz | Alexei Bagamzew redet leise, manchmal stockt er. „Meine
       Familie ist eine Familie von Tätern, von Geheimdienstoffizieren, die das
       stalinistische System erschufen und es am Leben hielten.“ Bagamzew steht im
       Regen, hier vor dem Obersten Gericht Russlands im Zentrum Moskaus, er trägt
       einen schwarzen Mundschutz, auf dem steht: „Wir sind Memorial. Memorial ist
       nicht zu verbieten.“
       
       Genau das aber versucht die Richterin in dem sechsstöckigen grauen Gebäude.
       Hinter den Wänden, an denen Bagamzew und Hunderte andere –
       Student*innen, Rentner*innen, Unternehmer*innen – an diesem grauen
       Novemberdonnerstag ausharren, soll die [1][älteste russische
       Menschenrechtsorganisation] „liquidiert“ werden, wie es heißt. Am
       Nachmittag vertagte das Gericht die Sitzung auf den 14. Dezember. Der
       Generalstaatsanwalt wirft den Menschenrechtler*innen vor, sie
       verstießen gegen „gerechten Anspruch auf Moral“. Was er damit meint, führt
       er nicht weiter aus. Es ist ein kafkaesker Prozess.
       
       Memorial ist die Hüterin der [2][Erinnerung an die Verbrechen der
       Sowjetzeit]. Kaum jemand sonst sammelt und verwahrt Informationen über
       Gulag und Terror im Stalinismus wie die unerschrockenen Frauen und Männer,
       die das Erbe von Repressierten und Dissident*innen weitertragen, und
       weist zugleich auf die politischen Verbrechen der Gegenwart hin. Die
       Menschenrechtler*innen sind seit der Perestroika von Michail
       Gorbatschow Aufklärer*innen von Familiengeschichten.
       
       Für den 69-jährigen Alexei Bagamzew war die Organisation einst
       „Augenöffnerin“, wie er leise sagt. „Ich war ein überzeugtes
       Parteimitglied. Der Stellvertreter von Lawrenti Berija war als Freund der
       Familie zu meiner Hochzeit eingeladen. Meine Eltern waren hohe
       Parteigenossen, mein Bruder war KGB-Offizier. Ich war einer von ihnen. Dann
       las ich die Memorial-Materialien über das Massaker von Katyń, verübt vom
       NKWD. Mein Weg des Aufwachens begann.“
       
       Umso mehr schmerze es ihn, dass die Reflexe von früher auch heute griffen.
       „Es ist einfach widerlich, was der Staat durch seine gelenkte Justiz hier
       veranstaltet.“
       
       ## Markierung als „Agenten“ versäumt
       
       Das als internationale Organisation eingetragene Memorial war vom
       russischen Justizministerium vor fünf Jahren zum „[3][ausländischen
       Agenten]“ erklärt worden. Das Gesetz verpflichtet alle, die sich politisch
       betätigen und aus dem Ausland finanziert werden, sich so zu nennen, in
       allen Veröffentlichungen.
       
       Memorial soll neunmal die Agentenmarkierung im Internet versäumt haben,
       sechsmal auf Büchern, dreimal in Broschüren, einmal in einem
       Gesellschaftsspiel. Das beeinflusse Kinder negativ, sagt die
       Generalstaatsanwaltschaft.
       
       „Die Verhandlung zeigt, wie unser Staat die sowjetischen Verbrechen
       rechtfertigt, er verhält sich stalinistisch“, sagen zwei 18-jährige
       Studentinnen. Sie erzählen über Repressierte in ihren Familien, über ihren
       Besuch im Memorial-Museum. Ihre Namen behalten sie für sich. „Wir leben in
       einem unberechenbaren Land.“
       
       25 Nov 2021
       
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