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       # taz.de -- Bremer Senatorin über Verkehrsversuche: „Man braucht Akzeptanz“
       
       > Vollsperrung, Liegestühle, Einbahnstraße: Wie Verkehrswende aussehen
       > kann, versucht Bremen mit Experimenten herauszufinden.
       
   IMG Bild: Vollsperrung auf der sonst vierspurigen Martinistraße im Sommer
       
       taz: Frau Schaefer, warum brauchen wir die Verkehrsversuche in der Bremer
       Martinistraße? 
       
       Maike Schaefer: Wir haben im rot-grün-roten Koalitionsvertrag eine
       autofreie Innenstadt bis 2030 vereinbart. Die einzelnen Maßnahmen werden in
       einem Beirat beschlossen, in dem neben Politiker:innen und Ressorts
       unter anderem auch die Handelskammer, BUND und der ADFC sitzen. Dass in der
       Martinistraße aus vier Spuren für die Autos höchstens zwei werden sollen,
       war schon immer Konsens. Da sich die Akteur:innen aber zwischen den
       Varianten Vollsperrung, Beidrichtungsverkehr und Einbahnverkehr nicht
       einigen konnten, machen wir die Verkehrsversuche, um eine solide
       Datengrundlage zu schaffen. Wir wollen wissen, wie sich die Verkehrsströme
       verlagern.
       
       Grüne [1][wollen eine Verkehrswende], die Handelskammer sträubt sich. Ist
       das ein Konflikt zwischen Klima und Wirtschaft? 
       
       Ich hoffe nicht. Natürlich hat die Verkehrswende etwas mit Klimaschutz zu
       tun, ganz viel sogar. Aber wir wollen auch eine höhere Aufenthaltsqualität
       in der Innenstadt erreichen. Es gilt, den Menschen zu zeigen, was man mit
       diesem neu gewonnenen Platz machen kann, wenn da nicht lärmende
       Blechlawinen durchfahren. Mir scheint, es geht bei der Kritik eher um die
       Sorge der Handelstreibenden, dass Kundschaft ausfällt. Das tut sie auch,
       aber die Probleme liegen nicht im Verkehr, sondern in Corona und dem
       Online-Handel. Die Obernstraße, die Haupteinkaufsstraße in der Innenstadt,
       ist eine unattraktive Betonschlucht mit zu hohen Mieten. Das wollen und
       müssen wir ändern!
       
       Was lief bei den Versuchen gut? 
       
       Da gibt es unterschiedliche Wahrnehmungen. Ich habe das Gefühl, dass
       Menschen sich mit Veränderungen immer schwertun. Bei aller Kritik haben wir
       aber auch sehr viel Zustimmung bekommen. Die Vollsperrung haben wir mit
       vielen Aktionen flankiert: Das Konzert von Danger Dan war super gut
       besucht. Die Surfwelle war während der ganzen Zeit ausgebucht. Damit wollen
       wir Menschen zurück in die Innenstadt holen. Gerade jüngere Menschen, die
       wenig Lust haben, ausschließlich shoppen zu gehen. Was wir bei allen
       Versuchsvarianten gesehen haben: Es gab kein Chaos.
       
       Was lief schlecht? 
       
       Ich glaube diejenigen, die sich beschwert haben, hätten sich auch in zwei
       Jahren noch beschwert. Nicht gut lief, dass es in der Martinistraße keine
       klare Verkehrsführung gab. Ich habe mich als Fahrradfahrerin gefragt, wieso
       die mich von der Straße gegen den Bordstein geleitet haben. Dafür ist es
       auch gut, so einen Versuch zu machen und zu sehen: „Das hat jetzt mal nicht
       so gut funktioniert.“ Wir lernen daraus und machen es in der aktuellen
       Phase sowie darüber hinaus besser durch eine deutliche Verkehrsführung.
       
       [2][Die Handelskammer kritisierte] die schlechte Absprache. 
       
       Das teile ich nicht. Wir haben wirklich viel kommuniziert. Ich glaube, alle
       waren überrascht, dass die Versuche dann auch wirklich zügig umgesetzt
       wurden. Meiner Meinung nach sind die Ladenbesitzer:innen kaum
       eingeschränkt gewesen. Bei der Vollsperrung, klar, da fuhren mal zwei
       Wochen lang keine Autos durch die Martinistraße – das große Parkhaus war
       aber selbst da sogar immer noch erreichbar. Die Martinistraße ist eine
       Durchgangsstraße. Die wenigsten fahren dahin, um ein Geschäft anzusteuern.
       Ich verstehe die Sorge der Geschäftsleute, weil es ihnen sowieso gerade
       nicht gut geht. Es ist immer schwierig zu sagen, warum jetzt keine
       Kund*innen kommen. Aber alles auf den Verkehrsversuch zu schieben, das
       ist zu einfach.
       
       Haben Sie die Emotionalität der Reaktionen unterschätzt? 
       
       Nein. Ich glaube, der Aufschrei am Anfang ist immer da. Ich finde manchmal
       die Art und Weise, wie kritisiert wird, schwierig. Aber dass die Autolobby
       sich beschwert, wenn man den Autoverkehr herausnimmt, hat mich jetzt nicht
       so verwundert. In Deutschland ist über Jahrzehnte hinweg alles sehr auf den
       Autoverkehr und die autogerechte Stadt fokussiert gewesen. Manchmal ist das
       auch ein Generationenthema. Wer immer gewohnt war, sich viel mit dem Auto
       fortzubewegen, kann sich die Alternativen nur schwer vorstellen.
       
       Dann ist der Protest meist groß. 
       
       Als wir 2008 beschlossen haben, Tempo 120 auf der Autobahn als
       Regelgeschwindigkeit einzuführen, ging auch erst mal bei vielen gefühlt die
       Welt unter. Jetzt ist das kein Thema mehr. Andere Beispiele aus Bremen sind
       der Concordia-Tunnel, der rote Fahrradstreifen im Herdentor, die Ampeln in
       der Kurfürstenallee. Da gab es auch viel Kritik. Am Ende zeigt sich doch
       immer: Es funktioniert, man gewöhnt sich dran. Der Vorwurf ist schnell,
       dass Grüne nur gegen Autofahrer:innen seien. Aber es gibt ja immer
       auch eine andere Seite: die Mobilitätseingeschränkten, die Radfahrer:innen,
       das Klima.
       
       Was wird nun aus der Martinistraße? 
       
       Wir werden die Daten im April komplett auswerten. Zum jetzigen Zeitpunkt
       ist die Vollsperrung die unwahrscheinlichste Variante. Die autofreie
       Innenstadt ist natürlich irgendwann das Ziel, da gehört die Martinistraße
       dazu. Wenn wir es uns einfach machen wollten, würden wir überall in der
       Innenstadt Einfahrt-Verboten-Schilder aufstellen. Das würde nicht wirklich
       für Akzeptanz sorgen. Akzeptanz braucht man aber am Ende dann auch für eine
       Verkehrswende.
       
       Wenn die Martinistraße also erst mal bloß zweispurig wird: Was kann sich
       dadurch wirklich verändern? 
       
       Wir schaffen viel Raum für den Fußverkehr. So ist Flanieren ganz anders
       möglich. Radfahrer:innen bekommen mehr Platz, wir verbessern die
       Sicherheit im Verkehr. Klar, da werden noch Autos fahren, aber eben
       deutlich weniger. Das heißt weniger Lärm, weniger Abgase. Das macht schon
       etwas Positives mit dem Ambiente. Es ist erst mal ein Kompromiss, in noch
       größeren Schritten geht es gerade nicht. Die Verkehrswende ist kein
       Selbstläufer. Da müssen wir viel Überzeugungsarbeit leisten. Und manchmal
       eben auch „einfach mal machen“, auch wenn es nicht allen gefällt.
       
       23 Nov 2021
       
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   DIR Paul Petsche
       
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